Fortsetzung vom 8.11.2019
Diesen Bericht seiner späten Aktivitäten als freier Filmmusikproduzent verfasste Richard Kummerfeldt im Exil in Südamerika für ein (deutsches?) Fachmagazin. Es gewährt Einblicke in die letzten Jahre der Tonträgerindustrie vor deren Verschlafen der digitalen Revolution, in die Welt der käuflichen Filmmusik, die Seele des Sammlers (heute „Nerd“), die Finessen des sich wandelnden Urheberrechts und erzählt von der Arbeit mit schwierigen Bürohengsten und Künstlerpersönlichkeiten in den 90er Jahren.
Hohle Gassen und andere Engpässe
Ich fuhr schon am Samstag los, um mit Heinz noch ein wenig plaudern zu können – ich brauchte immer einen Tag, um wieder in die Kinoroutine reinzukommen. Die Situation, die ich in Pirmasens vorfand, überstieg meine schlimmsten Befürchtungen. Der gesamte Komplex war eingerüstet, in der Einfahrt waren Türme aus Steinen aufgeschichtet, und Sandhaufen bildeten eine weiche Hügellandschaft. Ein schmaler Gang erlaubte den Zugang zum Kino. Da Samstags überwiegend amerikanische Soldaten aus der Garnison vorbeikamen, war die Besucherzahl an diesem Tag normal. Meist in mehreren kleinen Gruppen schauten sich den Film an, tranken jeder drei bis vier Bier und brachten sich in Stimmung für den anschließenden Discobesuch. Auch ein paar unserer Pirmasenser Stammgäste waren gegenwärtig, eigentlich Kundschaft, die tagsüber unter der Woche kam. Man kannte sich, also konnte ich mich mit den Herren unterhalten. Und das bekam ich zu hören: von montags bis freitags, 8 bis 17 Uhr wuselten die Arbeiter auf der Baustelle herum. Betrat ein Kunde die Einfahrt, wurde er lautstark mit anzüglichen Bemerkungen begrüßt. In einer Kleinstadt bedeutete das nicht nur 25 Meter Spießrutenlauf, sondern auch garantierte namentliche Weiterverbreitung aller Namen beim abendlichen Kneipenbummel der Bauarbeiter.
Auch der Sonntag hatte passable Besucherzahlen; da kamen meist Pärchen aus dem benachbarten Saarland oder aus Frankreich herüber. Heinz und ich nutzten diesen Tag, die Abrechnungen der letzten Wochen durchzugehen und Auswege aus der Misere zu suchen. Meine Idee, einen zwei Meter hohen Holzzaun mit Abdeckplanen zu errichten, wischte Heinz vom Tisch. Schließlich gehörte die Einfahrt der Deutschen Bank, wir hatten nur das Nutzungs- bzw. Zugangsrecht. Bis zum Ende der Bauarbeiten hieß es Daumendrücken, Durchhalten und hoffen, dass Heinz danach mit seinem Filmverleih Erfolg haben würde. Und sparen, wo es nur ging. Heinz versicherte mir wortreich, dass mit seinem Deal keine großen Investitionen verbunden seien, und so erteilte ich ihm meinen Segen.
Montag: Heinz fuhr schon früh am Morgen Richtung Bayerischer Wald, ich kaufte etwas zum Essen ein und öffnete das Kino pünktlich 10 Uhr. Ich hätte es mir sparen können. Etwa gegen eins kam der erste Kunde, ein, zwei Stunden später der zweite, um 18 Uhr war ich bei 5 und zum Feierabend (kurz vor Mitternacht) bei 12 oder 13 zahlenden Gästen angelangt. Mir fehlten also rund 500 DM Umsatz. So ging es zwei Wochen lang. Ich war deprimiert, und auch ein überschwänglicher Heinz, der den Vertriebsvertrag mit Herrn Klick in den Händen hielt, konnte mich nicht recht aufmuntern. Meinem Vorschlag, den Laden sofort dichtzumachen, stimmte er nicht zu. Ich bräuchte nur Geduld zu haben.
Meine Geduld ging ziemlich genau ein Jahr später zu Ende: der Umbau war fertig, die Festung stand, die Einfahrt war frei und nun durch Kameras und Bewegungsmelder gesichert. Betrat ein Amüsierwilliger die Einfahrt, sprangen die Bewegungsmelder an, vier riesige Strahler erleuchteten die Einfahrt taghell, und die Kameras surrten los. Die Schalterbeamten konnten sich am nächsten Tag über die bekannten Gesichter amüsieren.
Heinz´ Abenteuer mit dem Filmverleih funktionierte übrigens nicht und wurde sehr viel teurer als veranschlagt. Dieses Geld, zusammen mit den Verlusten aus dem Kino, sollte mir dann in Odense und Berlin fehlen.
Das Weihnachtsgeschäft lief nicht wie erwartet. Das lag nicht daran, dass der Außendienst etwa faul gewesen wäre oder das Proton nur uninteressante Titel im Angebot hatte. Nein, die Firma war mit den wichtigen Titeln nicht lieferfähig. Hinter dem Rücken von VRC wurde gemunkelt, er schulde hier, da und dort seinen Lieferanten erhebliche Summen. Mein Blick in die leeren Regale sagte mir, dass an dem Gerücht etwas dran sein könnte. Victor sprach von einem „vorübergehenden Engpass“, den er bis zur nächsten MIDEM beheben würde. Ich solle einfach mit Alhambra weitermachen. Aber auch Alhambra war nicht ganz unschuldig an der finanziellen Misere. Der Vertrieb in Griechenland hatte die erste Lieferung vereinbarungsgemäß bezahlt, bei den Nachlieferungen hatte er dann die Zahlungen eingestellt. Wir hatten die gleiche Situation in Schweden, und auch Österreich zahlte nur sehr zögerlich. Hatten sich bei uns nur solche Firmen gemeldet, die von anderen Lieferanten nicht mehr bedient wurden, weil man sie schon kurz vor dem Konkurs sah?
Zur MIDEM fuhr ich also mit wenig Begeisterung. Ich erwartete nicht, dort einen unserer Schuldner anzutreffen, und was sollte ich meinen anderen Partnern sagen? Ich hatte noch keinen Veröffentlichungsplan für das Jahr und mit Vertröstungen war auch niemandem gedient. Zwar hatten wir nun einige aktuelle Titel im Programm, aber neben den Problemen in Pirmasens und Hamburg hatte ich den Flop mit Frederick Talgorns „Le brasier – Höllenglut“ noch im Gepäck. Der Film war von der Produktionsfirma groß als neues französisches Epos beworben worden und dann sang- und klanglos untergegangen. Wir hatten ein hübsches, aber unverkäufliches Produkt. Rezensionen von Filmmusik-CDs gibt es fast nie in der normalen Presse, und wie sah es in unserer Nische aus? Luc van de Veens Magazin hatte ich abgehakt. Er war zu sehr damit beschäftigt, seine eigenen Produktionen in höchsten Tönen zu loben (oder loben zu lassen), und als nicht gerade deutschlandfreundlicher Mensch war ihm auch nicht gerade daran gelegen, einem dortigen Minilabel zu helfen. Vielleicht gefiel ihm aber nur meine Nase nicht. Kurzum: die MIDEM verlief ohne nennenswerte Höhepunkte … außer einer Begegnung mit Christina Haralambidis (siehe weiter oben).