Geschichte des Komiker-Handwerks (9)

Fortsetzung vom 10. April 2020

Der Impresario Edward Albee – nicht zu verwechseln mit dem jüngeren Dramatiker gleichen Namens – hatte an der Emanzipation des Vaudeville zur gepflegten bürgerlichen Unterhaltung großen Anteil. 1923 erzählte er dem Branchenblatt „Variety“, die Armada seiner Künstler sei so bunt und „kosmopolitisch wie die Bevölkerung der Städte in den vereinigten Staaten“. Er sah „alle Ethnien und Nationen der zivilisierten Welt“ in seinen Shows vertreten oder doch wenigstens abgebildet. So spiegelten diese Shows die Probleme der Zeit und gesellschaftlichen Entwicklungen wieder, etwa die Immigrationswellen aus der Alten Welt, die Probleme der Schwarzen, die Emanzipation der Frau.
Bereits im 19. Jahrhundert (von 1875 bis 1905) dominierte die „Ethnic Comedy“ die Vaudeville- und Burlesque-Shows. Und das in einer Art und Weise, die in unseren Tagen der Political Correctness undenkbar wären. Schamlos wurde sich qua Dialektimitation über Iren, Deutsche und Juden lustig gemacht, ihre regionalen Stereotype waren immer für einen Lacher gut. Und natürlich wurden nicht nur Ausländer auf die Schippe genommen, sondern auch Senioren, Homosexuelle, Brillenträger, Stotterer, Obdachlose, Spießer, Kranke, Gläubige, Sonderlinge aller Art.
Etwas vom Geist dieses völlig hemmungslosen und unredigierten Humors hat sich für uns im Slapstick-Kino der Stummfilmzeit erhalten.
Der Filmhistoriker William K. Everson* berichtet und analysiert:

In „Man About Town“ beobachtet James Finlayson als Warenhaus-Detektiv eine Ladendiebin, die die geklaute Ware unter ihrem schon verdächtig aufgebauschten Mantel verstaut. Er stellt sie und schüttelt sie kräftig durch, so dass die Beute aus ihrem Mantel fällt. Mit einem hochbefriedigten Grinsen stellt Finlayson einem weiteren Opfer nach. Er greift sich einen armseligen alten Mann, der offensichtlich sein Beutegut unter den Rücken einer Jacke gestopft hat. In triumphierenden Sprüngen um den Mann herumhüpfend beutelt Finlayson ihn durch und reißt seine Jacke hoch. Natürlich hat der Mann einen echten Buckel!
Dergleichen Scherze mögen uns geschmacklos vorkommen, aber in der Burleske der Stummfilmzeit war eben absolut alles möglich. Über alle möglichen Gebrechen, über die Eigenheiten von rassischen oder religiösen Minderheiten wie über Sex machte man sich hemmungslos lustig, und alles gleichermaßen als Zielscheibe von Spott und Verhöhnung galt, kam das Gefühl einer gezielten Diskriminierung gar nicht erst auf und wurde toleriert, wenn es nur komisch war – und das war es meist.


Letzteres kann ich bestätigen. In den 70er Jahren wurden diese Filme noch unzensiert (wenn auch nicht ungeschnitten) im Kinderprogramm ausgestrahlt. Besonders der solistische Stan Laurel, der später in seiner Duo-Partnerschaft als zartfühlender Tagträumer Karriere auftrat, agierte überaus zupackend und machte keine Gefangenen.**
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* … in „Laurel und Hardy und ihre Filme“ (Citadel Press 1967),  deutsch bei Goldmann 1980. Siehe dazu auch https://blog.montyarnold.com/2015/04/08/nehmen-sie-doch-noch-kartoffeln/
** Nähere Betrachtung eines solchen Films unter https://blog.montyarnold.com/2018/11/16/11806/

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Essay „Humor Omnia Vicit“.

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