Hitchcock beim Fernsehen – Eine kritische Würdigung

betr.: 121. Geburtstag von Alfred Hitchcock

Die Corona-Krise (und eine Anschaffung zuvor) brachten es mit sich, dass ich endlich die Möglichkeit hatte, mir die zwei aneinander anschließenden TV-Serien von Meister Hitchcock vollständig anzuschauen. Da sich in der Fachliteratur eine solche nicht findet, folgt an dieser Stelle eine Bewertung dieses Mammut-Kabinettstückchens.


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Von Mitte der 50er bis Mitte der 60er Jahre produzierte und moderierte Alfred Hitchcock zwei TV-Serien, deren Episoden er teilweise selbst inszenierte. Ausgerechnet in dieser, seiner filmisch und filmhistorisch produktivsten und erfolgreichsten Phase, leistete er sich dieses zusätzliche Projekt, und das Produkt konnte sich sehen lassen!

In „Alfred Hitchcock Presents“ (1955–1962) und „The Alfred Hitchcock Hour“ (1962-65) wurden in sich abgeschlossene Kriminaldramen und –komödien erzählt, hin und wieder auch phantastische Parabeln, die ebenso in „The Twilight Zone“ gepasst hätten, das andere große anthologische TV-Format jener Jahre.
Eine Handvoll der etwa 360 TV-Filme, die in den beiden Hitchcock-Formaten präsentiert wurden, liefen auch synchronisiert im deutschen Fernsehen. Die Auswahl dieser gut 40 Folgen war absolut zufällig. Bei dieser Menge an Material wollte sich wohl kein Redakteur die Mühe eines umfassenden Überblicks machen. Seltsamerweise wurde selbst auf oberflächliche Indizien – die teilweise schillernde Besetzung, die Regie durch Hitchcock selbst, die Prominenz des Autors … – dabei nicht geachtet.

Hitchcock scharte in seinem Atelier „Shamley Productions“ in Universal City ein kleines Ensemble von bewährten Mitarbeitern und Stammschauspielern um sich, das er teilweise auch in seinen Filmen einsetzte. John Williams, der auf der Leinwand zwei sehr prägnante Nebenrollen gespielt hatte, brachte es in „Alfred Hitchcock Presents“ auf sagenhafte zehn Einsätze, Hitchcocks Tochter Pat, deren Schauspielkarriere trotz ihrer edlen Herkunft nicht in Gang kam, spielte immer wieder kleinere und größere Rollen, ehe sie die Schauspielerei ganz aufgab.
Ausführende Produzentin war Hitchcocks Ex-Sekretärin Joan Harrison, der Schauspieler Norman Lloyd wurde als Co-Produzent und gelegentlicher Regisseur verpflichtet. Hitchcocks Hauskomponist Bernard Herrmann schrieb einige der Soundtracks, besonders viele für die letzten beiden Staffeln von „The Alfred Hitchcock Hour“, die seinem Bruch mit dem Regisseur unmittelbar vorausgingen. Lyn Murray besorgte in dieser Spätphase fast alle übrigen. (Eine Veröffentlichung dieses ungemein reichhaltigen Repertoires wäre ein Leckerbissen für Fans der klassischen Filmmusik!)

Was unterscheidet die beiden konzeptionell identischen Serienformate, was ist über ihre Qualität zu sagen?

I.

Als „Alfred Hitchcock Presents“ startete, hatte Hitchcock eine prachtvolle Phase. Er drehte mit seinen Lieblings-Hauptdarstellern, die er seiner exemplarischen blonden Heldin Grace Kelly zur Seite stellte, erfreute sich guter Einnahmen und künstlerischer Freiheit. Die Entdeckung durch das Feuilleton und die Wertschätzung der europäischen Cineasten bahnte sich allmählich an.
Wenn Hitchcock vor die Kamera trat, um das Publikum seiner Show zu begrüßen, den Sponsor zu beleidigen und die heutige Folge anzusagen, hatte er geradezu aufreizend gute Laune. „Geistig wach, aber reserviert, und eine Idee übergewichtig“ sagte er Sätze wie: „Herzlich willkommen im finstersten Hollywood. Die Nacht bringt Stille in den Dschungel. Es ist so ruhig, das man einen Namen fallen hören kann. Die Bestien die Wildnis haben sich bereits an der Tränke versammelt, um ihren Durst zu stillen. Niemand braucht sich zu beunruhigen. Doch der gefährliche Plauderer ist noch auf der Jagd von Tisch zu Tisch, und der gefleckte Rufmörder könnte hinter einer Topfpalme lauern.“*
Die ersten dieser Moderationen sprach der wie üblich in seinen schwarzen Anzug gehüllte Meister ohne Requisiten vor kahlem Hintergrund, dann kamen nach und nach kleine Gimmicks, Verkleidungen, hin und wieder sogar Dekorationen hinzu. Auch die folgenden zwanzigminütigen Fernsehspiele entwickelten sich in der ersten Zeit. Die erste Staffel weist noch ein paar kleine Untiefen auf, dann haben wir es mit einer (bei zwei Proben- und zwei Drehtagen pro Folge!) durchgehend verblüffend gut gemachten und hochinspirierten Serie zu tun. Erstaunlicherweise erweist sich das kurze Format als vollkommen sättigend, am Ende der meisten Geschichten hat man das Gefühl, einen abendfüllenden Film gesehen zu haben.

II.

„The Alfred Hitchcock Hour“ war mit netto 45 Minuten doppelt so lang wie „Alfred Hitchcock Presents“. Die erste Staffel schließt qualitativ an ihre Vorgängerin an, es kommt zu weiteren Highlights. Wiederum haben die Folgen genau die richtige Länge für ihre Story. Der Look wird etwas edler, die Zahl der Außenaufnahmen nimmt zu, und die Kameraarbeit wird entsprechend anspruchsvoller. Es sieht noch mehr nach Kino aus. In der zweiten Staffel bekommt die Serie einen etwas übereifrigen Zeichentrickvorspann, der so dunkel gehalten ist, dass Hitchcocks markanter Schattenriss nicht mehr zum Einsatz kommt.
Hitchcock selbst hat sich verändert. Er ist fülliger geworden und trägt jetzt Fliege zum Abendanzug. Das schafft eine merkwürdige Distanz im Vergleich zu seiner früheren Garderobe, obwohl der Unterschied in der TV-Optik kaum zu sehen ist. Hitchcocks Stimmung ist eine andere. Er ist feierlicher, weniger verschmitzt und lächelt kaum noch. Er kultiviert nun das in den letzten Jahren etablierte Bild des britischen Gentlemans, der mit mimikfreiem Understatement flapsige Bemerkungen macht, während um ihn her entsetzliche Dinge ihren Lauf nehmen. War er in der vorangegangenen Serie eher ein Humorist, so überwiegt nun der gebrochene Habitus des würdevollen Unglücksboten.

Die entscheidende Entwicklung aber vollzieht sich im Hauptprogramm.
Joan Harrison zieht sich nach ihrer Heirat zurück und  wird ab Staffel 2 von Norman Lloyd ersetzt.  Die Qualität des präsentierten Programms nimmt merklich ab. Immer häufiger stehen Figuren (meistens Paare oder Beziehungs-Dreiecke) im Vordergrund, die viel zu unangenehm sind, um sich mit ihnen zu amüsieren. Und auch die besseren Episoden hätten fast immer auch in der Hälfte der Zeit erzählt werden können. (Bei der „Twilight Zone“ machte man gerade die selbe Erfahrung: nachdem diese Serie in der vierten Staffel auf eine Stunde incl. Werbung verlängert worden war, kehrte man in der letzten Saison noch einmal zum halbstündigen Format zurück.)

Die letzten Jahre von Hitchcocks Fernseharbeit fallen in die schwierige Phase mit Tippi Hedren, die er mit drastischen Methoden zu seiner neuen Grace Kelly aufzubauen suchte. Ihr zweiter gemeinsamer Film wurde ein Flop und erst nach Hitchcocks Tod zu seinen Klassikern gezählt. Es folgten mehrere Jahre, in denen man (irrtümlich) annahm, der Meister sei passé. „The Alfred Hitchcock Hour“ wurde vom Sender nicht verlängert.
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* Mehr dazu im Kapitel über das Remake der Serie unter https://blog.montyarnold.com/2020/04/29/alfred-hitchcock-zeigt-das-remake/

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