Horror corona vacui

betr.: verrutschte Größenverhältnisse im Fernsehen der Corona-Krise

Kürzlich fiel mir wieder auf, wie hilflos das Fernsehen mit der Corona-Situation umgeht. Formate, die seit eh und je auf das Stattfinden vor großem Publikum ausgerichtet sind, finden noch immer in den selben bzw. gleichen Dekorationen statt. Zwar haben sich bei einigen Kabarett/Comedy-Shows die Stuhlreihen gelichtet und der Abstand zur Rampe vergrößert, aber das war’s im Wesentlichen. Noch immer spielt etwa DSDS in einer pompösen Shiny-Floor-Arena von römischen Ausmaßen. Hin und wieder erweist sich das fehlende Publikum als angenehm*, aber nur Joko und Klaas gehen wirklich kreativ mit der Lage um. In allen übrigen Live-Shows tut man einfach so, als würde hoffentlich niemand merken, dass da heute keiner sitzt. Da werden auch Komödianten schonmal besinnlich. Christian Ehring wirkt in seiner Kulisse seit Monaten wie bestellt und nicht abgeholt, Oliver Welke findet im „Spiegel“ angemessen pathetische Worte, um die soldatische Tapferkeit zu beschreiben, die von einem Comedy-Chairman gefordert ist, wenn die Leute zu Hause selber lachen müssen – einzeln, Lichtjahre entfernt und unhörbar für einander.
Nach einem Jahr Corona wirkt solch selbstzufriedene Lahmarschigkeit ein bisschen wie Regierungsfernsehen.

Den Abstand zur Kamera wieder zu verkleinern und auf Kammerspiel zurückzusetzen, mutet in den Zeiten extrabreiter, hochauflösender Bildschirme schräg an, aber im Kino geht sowas ja schließlich auch (wenn auch nur live on tape).
Zur Inspiration, wie eine solche Neuordnung der Bildregie aussehen könnte, lohnt ein Blick ins Archiv.
Ich erinnere mich an einen Besuch von Gilbert Bécaud bei „Was bin ich?“ – ein dynamischer Weltstar, dessen ausladendes Temperament ihm den Titel „Monsieur 100.000 Volt“ eingetragen hatte, in einem winzigkleinen, faden Studio. Als der Sänger erraten worden war, bat ihn Robert Lembke noch um ein Chanson. Bécaud machte das Beste aus den beengten Verhältnissen. Er ließ sie vergessen.
Das Licht ging aus, und der Künstler schritt nun zwischen zwei gegenüberliegenden Kameras hin und her – nur wenige Schritte jeweils – die ihn aus leicht erhöhter Position von zwei Seiten einfingen. In diese hinein schleuderte er sein immens fetziges „La solitude, ca n’existe pas“. Es war ganz großes Kino.
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* Der St. George Herald berichtete unter https://blog.montyarnold.com/2020/06/18/16127/

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