Richard Kummerfeldt – An den Rändern der Traumfabrik (20)

Fortsetzung vom 3. Juni 2021

Diesen Bericht seiner späten Aktivitäten als freier Filmmusikproduzent verfasste Richard Kummerfeldt im Exil in Südamerika für ein (deutsches?) Fachmagazin bzw. einen gewissen John. Es gewährt Einblicke in die letzten Jahre der Tonträgerindustrie vor deren Verschlafen der digitalen Revolution, in die Welt der käuflichen Filmmusik, die Seele des Sammlers (heute „Nerd“), die Finessen des sich wandelnden Urheberrechts und erzählt von der Arbeit mit schwierigen Bürohengsten und Künstlerpersönlichkeiten in den 90er Jahren.

MJLs Concert Of Blood (iii)

Weiterhin beschäftigte mich die Frage, wie es denn nun um Proton steht. VRC schenkte mir reinen Wein ein: es stand wirtschaftlich so schlecht, dass er die Firma schließen müsste, wenn die „Miss Marple“-CD nicht die Wende brachte. Bei mir bimmelten alle Alarmglocken gleichzeitig. Wie sollte ein einziger Tonträger eine Firma vor der Insolvenz retten? Ich gab zu bedenken, dass es mindestens noch sechs bis acht Wochen dauern würde, bis das fertige Produkt auf dem Tisch läge, und bei den Stückzahlen, mit denen er rechnete, konnten wir nicht mit einer Erstauflage von 1000 Stück anfangen. VRC fragte, ob denn Heinz nicht einspringen könne. Ich sagte, ich würde ihn fragen, aber ich wusste, dass hier jede weitere Mark verloren war.
Die Fragen hörten nicht auf: Was sollte aus Alhambra werden? Wo würde ich neue Arbeit finden? Diese Antworten sollte ich vier Wochen später erfahren, aber zunächst rief ich Heinz an.

Heinz gelang es mit Leichtigkeit, die katastrophale Lage in Hamburg noch zu toppen. Er meinte schlicht, es sei kein Geld mehr da – weder um die letzte Rate für die Technik in Odense zu bezahlen, noch um Søren* sein Geld zu überweisen. Und auch für den RIAS sei keine Puseratze mehr in der Kasse. Na sowas! Bis vor einer Woche war doch alles kein Problem gewesen? Es war eben alles teurer geworden als geplant. Nicht nur in Odense, sondern auch in Berlin. Aber ich solle mir keine Sorgen machen, er versuche gerade, noch etwas Zaster aufzutreiben. Heinz, der ewige Optimist.
Es sollte ihm nicht gelingen. Und das Husarenstück, das er sich in diesem Zusammenhang leistete, konnte ich ihm lange nicht verzeihen. Davon später  mehr.
Odense würde sich erst einmal bei Heinz melden, sobald Mr. Goodwin die Mischung abgesegnet hatte, der RIAS bei mir. Noch hatten wir eine Galgenfrist. VRC nahm die Nachricht mit wenig Entzücken auf. Ich solle mit Thomas Fenn reden, schließlich ginge es ja um meine Produktionen. Wie recht er hatte! Ich würde mit ihm sprechen, aber erst in dem Augenblick, wenn ich es für angebracht hielt.
Erst einmal überbrachte ich die Nachricht Thomas Karban, der sich zum ersten Mal (vorsichtig ausgedrückt) unwirsch gab. Sein vereinbartes Honorar würde er gar nicht oder erst irgendwann einmal erhalten. Die Verabschiedung fiel ungewöhnlich distanziert aus.
Ich fühlte mich wie in meinen letzten Tagen in Saarbrücken. Meine Lieblingsfeinde würden sich vor Vergnügen die Hände reiben!

Der Monat ging zu Ende, ich erhielt erstaunlicherweise mein Gehalt, und VRC legte mir seine Pläne für die nächsten Tage dar: FMS würde sein Lager und wohl auch die dazu gehörenden Lieferanten sowie den kompletten Außendienst übernehmen. Wenn ich bei FMS arbeiten wollte, brauchte ich nur mit Thomas zu sprechen, alles sei schon geregelt. Alhambra sollte in Zukunft von der DA – der „Deutschen Austrophon“ in Diepholz – vertrieben werden, und die Verträge, die ich im Namen der Videorent abgeschlossen hatte, überschriebe er mir samt Lagerbestand für den symbolischen Preis von einem Schweizer Franken. Alles sei fertig vorbereitet, der Vertrag liege auf seinem Schreibtisch, ich brauche nur zu unterschreiben.
Warmer Frohsinn durchströmte mich. Wie generös konnte dieser Mann bei seinem Abgang aus der Musikszene sein?
Natürlich unterschrieb ich. Hätte ich in diesem Augenblick gewusst, was ich mir damit einhandelte, ich hätte es mir zweimal überlegt und Du, John, hättest niemals die Möglichkeit gehabt, da weiter zu machen, wo ich aufgehört habe. VRC verabschiedete sich ein, zwei Tage später, und ich sah ihn niemals wieder. Seine Aktien an der „First Floor“ gingen automatisch an Heinz und mich, weil VRC – auf welchem Weg auch immer – seinen Teil nie bezahlt hatte. Ich begann also mit meiner Arbeit bei FMS.
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* Der dänische Filmmusik-Komponist Søren Hyldgaard, der bei der Neueinspielung von „Miss Marple“ als Supervisor gedient hatte.

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