Das Tier und wir

Die meisterhafte Vermenschlichung von Tieren war vor einem knappen Jahrhundert nicht die Erfindung aber der erste Markenkern von Walt Disney und den Erzeugnissen seines noch kleinen Unternehmens. Dafür hat man ihn lange kritisiert – besonders nachdem er mit „Seal Island“ auch als Naturfilmer Erfolg hatte. Dieser Vorwurf ist reichlich albern, wenn man bedenkt, dass die Tierwelt weitaus schlimmere Probleme mit der Menschheit hat als ihre unfreiwilligen Auftritte in Comics und Trickfilmen.
Jedenfalls ist das folgende Fundstück aus dem Jahre 1955 erstaunlich. Der Text in seiner vollständigen Form ist vermutlich ein Beitrag zum besagten Diskurs und bezieht sogar unbelebte Objekte mit ein. Er wurde zwar nicht von Disney verfasst (sondern von Manfred Hausmann, dem Lieblingsdichter Heinz Rühmanns), aber er hat ihn autorisiert.

Die Ausdrücke „Hilflosigkeit“, „Verlorenheit“, „Gleichmut“, „Dumpfheit“, „Leere“, „Trauer“, „Hoffnungslosigkeit“ bezeichnen Stimmungen der menschlichen Seele, die eigentlich nicht auf das Tier übertragen werden dürften. Der Mensch neigt – viel mehr als er es ahnt – dazu, Pflanze, Tier und den gesamten Bereich der der Natur zu vermenschlichen. Es ist unstatthaft, weil unsinnig, etwa von der Grausamkeit eines Raubtieres, vom Schmarotzerdasein einer Pflanze, von der Treue eines Hundes zu sprechen. Da werden Wertungen des menschlichen Geistes, ethische Wertungen zum Beispiel, in eine Welt hineingetragen, deren Lebensabläufe sich ohne Geist und ohne Ethik vollziehen.
In endloser Folge löst der Tod das Leben ab und das Leben den Tod. Wie mühsam die einzelne Pflanze ihre Gestalt, ihre Blüte und ihre Frucht auch den Elementen der Erde und der Luft abgewinnt, sie ist nur dazu da, um die Kette nicht abreißen zu lassen, diese erschreckend gleichmäßige Kette, in der Glied auf Glied folgt, Wiederholung auf Wiederholung, sinnlos, rätselhaft, bedrückend. Wie eifrig, mutig unermüdlich und begierig ein Tier auch darauf bedacht ist, sich am Leben zu halten und Nachkommen zu haben, auch seine Rolle im gesichtslosen Spiel des Ganzen ist von einer Eintönigkeit, die den menschlichen Geist, wenn er sie bedenkt und zu Ende zu denken versucht, zur Verzweiflung bringen kann. Geburt und Tod, Geburt und Tod, Geburt und Tod, ein ewiges Einerlei. Die Daseinskette ist eine wirkliche Kette, eine Sklavenkette, die keine Pflanze, kein Tier abwerfen kann.
(…) So bekundet sich denn auch in ihren anmutigsten und geschmeidigsten Bewegungen diese marionettenhafte Leere, die allem Endgültigen, nicht mehr zu Steigernden innewohnt, so blicken ihre Augen denn ohne Hoffnung – ob es sich um die starren Augen des Fisches oder um die beseelten eines Rotkehlchens, um die erbarmungslosen einer Schlange oder um die denkenden eines Pferdes handelt.

So gut wie jede Tiergeschichte ist eine Art von Märchen, weil sie – bewusst oder unbewusst – das Verhalten der Tiere in Beziehung setzt zu menschlichen Verhaltensweisen. Dem gleichen äußeren Vorgang werden ohne weiteres die gleichen seelischen Beweggründe untergeschoben. In Wirklichkeit besteht diese Entsprechung keineswegs. Eine Vogelmutter, die ihre Jungen füttert, tut das in biologischer Unfreiheit, sie hat keine andere Wahl. Eine Menschenmutter, die für ihr Kind sorgt, tut es zufolge einer in Freiheit getroffenen Entscheidung. Zwischen beiden klafft ein Abgrund.

Vielleicht verfällt der Mensch, auch der wissenschaftliche, deshalb immer wieder in einen solchen Fehler, weil er – ohne sich darüber klarzusein – auf diese Weise die unheimliche Fremdheit mildern will, die zwischen ihn und die Natur gesetzt ist. Wenn schon in der Beziehung von Mensch zu Mensch und selbst in der Beziehung von einem Liebenden zum andern ein unaufhebbarer Rest von Fremdheit bleibt, so gibt es in der Beziehung von Mensch zu Pflanze, von Mensch zu Tier überhaupt kein Verstehen, kein wirkliches Verstehen. Der Mensch lebt als ein todeinsamer Fremdling in der Natur. Selbstverständlich regen sich in ihm beim Umgang mit Pflanze und Tier vielfältige Empfindungen, aber eine echte Verbindung, ein Hin und Her, ein Zueinander und Miteinander, das die Grenzen überwindet und wie das Miteinander von Freunden, von Eltern und Kindern, von Eheleuten die Grenzen und Fremdheiten zu überwinden versteht, findet nicht statt.

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