Realsatire als Wagnis

Die Hüsch-Platten habe er nicht alle angehört. Das sei ja schon sehr kompliziert, was der mache, und da fehle ihm das nötige Vorwissen, meinte der alte Lübecker Plattenhändler. Aber er könne mir den Stapel gern mal raussuchen.
Deart prall gefüllte Antiquariate wirken gern etwas unaufgeräumt, aber das täuschte. Ich hatte gerade Zeit genug zu sagen: „Die meisten habe ich ja, aber wenn ‚Michael‘ dabei wä…“, da lag der Plattenstapel auch schon vor mir.
Und „Michael“ war tatsächlich dabei, alphabetisch an der richtigen Stelle einsortiert.
„Michael – Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern“ ist einer der krudesten Tonträger der 70er Jahre. Selbst Hüsch-Fans haben in der Regel noch nie davon gehört. Ich kenne die Platte aus der Sammlung eines Veranstalters von Hanns Dieter Hüsch. Er wollte sie mir aber nicht ausleihen, um mir ein Tonband davon zu ziehen, und so musste ich 30 Jahre lang mit einer schäbigen Audio-Cassette Vorlieb nehmen.
„Die kenne ich ja gar nicht“, meinte auch der Händler und holte ein dickes Buch hervor. „Das ist doch bestimmt eine Rarität“, meinte er mit einem Seitenblick auf mein vom Finderglück gerührtes Gesicht.
Recht hatte er. Die Scheibe ist sogar so rar, dass sie in dem Katalog gar nicht verzeichnet war. Aber er überließ mir das gute Stück für 15 Euro.

Der Text auf der Plattentasche lautet:

Joseph Gobbels, pseudo-expressionistischer Rabulist, später Bücher- und Menschenverbrenner, schrieb ein demi-autobiographisches Tagebuch, in dem er sich selbst als Michael, den jungen deutschen Gottsucher der 20er Jahre, darstellt, bis er endlich seinem Allerweltsgötzen Adolf Hitler begegnet.

Warum blätterte Hanns Dieter Hüsch in diesem Tagebuch? Warum zitiert er Joseph Goebbels?
Hüschs Zitieren ist nicht parodistisch gemeint, als Stammtischimitation. Er will hier nicht die reinen Lacher oder gar die nostalgisch stöhnenden „alten Kämpfer“ auf seiner Seite haben, sondern er zitiert, um damit ein Psychogramm des Einpeitschers der Nation zu liefern. Goebbels, mit allen religiösen Wassern gewaschen, wirft Christus, Nietzsche, Goethe, van Gogh, Mozart, Beethoven wie Kraut und Rüben durcheinander. Kleinkarierte Metaphysik, deutschnationale Romantik und irrationale Seelenfuchtelei toben sich aus.

Wer heute immer noch fragt: Wie konnte man darauf reinfallen? Wo hat das angefangen? Wie konnte es soweit kommen? Hier bekommt er Rede und Antwort.
Diese Platte ist jeder jungen Generation gewidmet, damit sie sich ein Bild vom Wort machen möge und heute, morgen und immer Augen und Ohren skeptisch offen hält. 

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