Herzog über sich selbst

betr.: 126. Geburtstag von Lotte Eisner Die jüdische Kaufmannstochter Lotte Eisner ist 1933 vor den Nazis aus Berlin geflohen. Sie gelangte nach Paris, in die Hauptstadt der großen Kinonation, wo sie nach dem Krieg als Filmarchivarin, Filmhistorikerin und als eine der ersten Filmkritikerinnen wahre Wunder vollbrachte. Sie war die fleißigste Mitarbeiterin von Henri Langlois, dem Leiter der  Cinémathèque Française, und dieser Langlois hat sie gehörig ausgenutzt, wie eine sehenswerte TV-Doku zu ihrem 125. Geburtstag enthüllte. Unter den Zeitzeugen der Sendung befindet sich auch ein alter Herr, der wirkt, als hätte er gerade eine besonders beseelende Substanz eingeworfen. In Wahrheit freut sich der Mann einfach über sich selbst – also über Werner Herzog, der vermutlich jeden seiner eigenen Filme stehen- und liegenlassen würde, wenn er sich stattdessen selbst beim Reden zuschauen dürfte. Dazu muss er natürlich erst einmal dabei gefilmt werden … Seine wichtigste Erfahrung mit Lotte Eisner hat Werner Herzog 1978 in „Vom Gehen im Eis“ niedergeschrieben und davon auch eine Aufnahme eingesprochen. Es ist die rätselhafte Geschichte von einer brandeiligen Mission, zu der er mit einem besonders behäbigen Fortbewegungsmittel aufgebrochen sein will: „Ende November 1974 rief mich ein Freund aus Paris an und sagte mir, Lotte Eisner sei schwer krank und werde wahrscheinlich sterben. Ich sagte, das darf nicht sein, nicht zu diesem Zeitpunkt, der deutsche Film könne sie gerade jetzt noch nicht entbehren, wir dürften ihren Tod nicht zulassen. Ich nahm eine Jacke, einen Kompass und einen Matchsack mit dem Nötigsten. Meine Stiefel waren so fest und neu, dass ich Vertrauen in sie hatte. Ich ging auf dem geradesten Weg nach Paris, in dem sicheren Glauben, sie werde am Leben bleiben, wenn ich zu Fuß käme. Außerdem wollte ich allein mit mir sein.“ – Klar, der Mann versteht was von Deutungshoheit! – „Ein einziger, alles beherrschender Gedanke: weg von hier. Die Menschen machen mir Angst. Die Eisnerin darf nicht sterben, sie wird nicht sterben, ich erlaube das nicht.“ – Wir haben verstanden. – „Sie wird nicht sterben, sie wird nicht. Nicht jetzt, das darf sie nicht.“ – Na dann … – „Nein, jetzt stirbt sie nicht, weil sie nicht stirbt.“ – Ja doch! – „Meine Schritte gehen fest. Und jetzt zittert die Erde. Wenn ich gehe, geht ein Bison. Wenn ich raste, ruht ein Berg. Wehe! Sie darf nicht. Sie wird nicht. Wenn ich in Paris bin, lebt sie. Es wird nicht anders sein, weil es nicht darf. Sie darf nicht sterben. Später vielleicht, wenn wir es erlauben.“ Soviel Selbstbewusstsein hatte nicht mal Klaus Kinski. Herzog jedenfalls hatte nun Schlimmeres auszuhalten als dessen feuchte Aussprache, der er so häufig getrotzt hat: „Auf einmal Schneetreiben, Blitz, Donner und Sturm, alles auf einmal, direkt über mich weg, so schnell, dass ich keine Zuflucht mehr fand und versuchte, so halb im Windschatten an eine Hausmauer gelehnt das Zeug über mich weggehen zu lassen. Gleich rechts neben mir am Eck des Hauses steckte ein fanatischer Wolfshund seinen Kopf durchs Gartengitter und fletschte mich an. In Minuten lag eine handhohe Schicht Wasser und Schnee auf der Straße und ein Lkw spritzte mich mit allem voll, was da lag. Kurz darauf für Sekunden kam die Sonne heraus, dann stürmischer Regen.“ Nach 22 Tagen erreichte Herzog die Patientin: „Sie war noch müde und von der Krankheit gezeichnet. Irgendwer musste ihr wohl am Telefon gesagt haben, dass ich zu Fuß gekommen war, ich wollte es nicht sagen.“ – Darin also hat das Trauma seine Wurzel: Bescheidenheit! – „Ich war verlegen und legte meine wehen Beine auf einem zweiten Sessel hoch, den sie mir hinschob. In der Verlegenheit ging mir ein Wort durch den Kopf, und da die Situation ohnedies seltsam war, sagte ich es ihr. Zusammen, sagte ich, werden wir Feuer kochen und Fische anhalten. Da sah sie mich an und lächelte ganz fein, und weil sie wusste, dass ich einer zu Fuß war und daher ungeschützt, verstand sie mich.“ Soso! „Feuer kochen und Fische anhalten“. Lotte Eisners feines Lächeln könnte ihr geholfen haben, den Reflex zu überspielen, nach dem Telefon zu tasten, um die Nummer eines guten Psychotherapeuten zu wählen. Jedenfalls hat sie der Welt und ihren Filmfreunden die Freude gemacht, noch neun Jahre weiterzuleben, ehe sie im Alter von 87 Jahren in Paris gestorben ist.
Dieser Beitrag wurde unter Film abgelegt und mit , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert