Wollen und Nichtwollen

Die „Frankfurter Rundschau“ mahnt im Zusammenhang mit der aktuellen Kritik am „Zauderer“ und „Scholzomaten“ Olaf Scholz: „Deutlich zum Ausdruck zu bringen, was er möchte, das sollte ein Regierungschef schon können“.
Ein Regierungschef sollte das sicherlich, doch für uns Normalsterbliche ist es viel schwerer als wir denken.

Vor Jahren wurde ich von einer Musical-Schule, für die ich tätig war, gebeten, an einem Serviceangebot mitzuwirken. Meine Kollegen und ich sollten Langzeitarbeitslose coachen. Die Schauspieldozenten improvisierten Szenen mit ihnen, die Tanzdozenten bewegten sich mit ihnen zu Musik, die Gesangsdozenten sangen mit ihnen. Ich als Geschichtslehrer musste mir etwas anderes ausdenken.
Ich beschloss, Gesellschaftsspiele zu machen, die für die Teilnehmenden hoffentlich aufschlussreich sein würden. Ich verteilte zum Beispiel Karten, auf denen Promintente standen und bat um eine spontane Äußerung dazu. Auf einem anderen Satz Karten sollten Halbsätze mit aktuellen Diskurs-Themen vervollständigt werden, um sie dann in der Runde auszudiskutieren. Oder ich schrieb sehr gebräuchliche Phasen auf („Blut ist dicker als Wasser!“ oder „Es gehören immer zwei dazu!“) und bat, sie vorzulesen und dann zu sagen „Dem stimme ich zu!“ oder „Dem stimme ich nicht zu!“
Mein Anliegen: die Sprüche zu entlarven, die wir nur allzu leichtfertig nachplappern, ohne uns jeweils bewusst zu machen, was sie tatsächlich bedeuten.
Eines dieser Spiele – das spannendste, wie ich heute denke – habe ich nur einmal durchgeführt. Am letzten Tag unserer Aktion bat man mich, für eine Kollegin einzuspringen und eine meiner Gruppen ein viertes Mal zu betreuen.
Ich holte das Konzept „Was ich mag, was ich nicht mag“ aus der Tasche. Ich bat die Anwesenden, in jede Spalte fünf Punkte hineinschreiben, am besten etwas Aufschlussreiches, Persönliches. Also bei „Was ich mag“ nicht „Sex“, „Urlaub“, „Lottogewinn“ … sondern zum Beispiel „Meeresfrüchte“, „Spanische Folklore“ oder „Ringelsocken“ – und auf der negativen Seite nicht so etwas wie „Krieg“, „Niedertracht“ oder „Krebs“.
Nur einer der Teilnehmer begann sofort, etwas zu auf sein Blatt zu kritzeln. Alle anderen stöhnten und warfen einander verstohlene Blicke zu. Als sie merkten, dass sie mit ihrem Unmut im allgemeinen Trend der Runde lagen, wurden sie deutlicher. Es wirkte, als hätte ich sie aufgefordert, sich mit einem ungeübten Kunststück zu blamieren. Oder – ganz buchstäblich – die Hose herunterzulassen.
Nach Ablauf der Bedenkzeit wurden mir unter Protest die Ergebnisse präsentiert. Niemand (außer der genannten Ausnahme) hatte mehr als drei Punkte in einer Spalte notiert. Und was da stand, glich den Beispielen, die ich gebeten hatte, nicht aufzuschreiben.
Einem Herrn war gar nichts eingefallen, und er war mächtig stolz darauf.
Die Stimmung war jetzt richtig mies. Was das überhaupt bezwecken solle, wurde ich jetzt gefragt. Ich meinte, es sei zwar nicht so, dass uns alle Wünsche erfüllt würden, sobald wir sie äußern. Aber sich seine Vorlieben und Ziele klarzumachen, sei der erste Schritt zu deren Erfüllung. Sonst könnten uns ja auch diejenigen gar nicht helfen, die das vielleicht möchten.
Der Herr ohne Eintrag begann jetzt, mich anzumaulen und setzte damit eine gruppendynamische Kettenreaktion in Gang.
Meine – zum Glück und wie gesagt – letzte Stunde unseres Coaching-Programms ging in Hader und Pöbelei unter.
Ich bin der Meinung, es ist durchaus gestattet und mitunter notwendig, bei Selbsterfahrungs-Runden an Unbequemes zu rühren. Dass ich das mit diesem unschuldigen Spielchen tun würde, war mir gar nicht bewusst.
Ich kann es immer noch nicht fassen.
Und ich finde es wirklich spannend.

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