Verdichtung und Wahrheit

Die ersten Gedichte waren Liedtexte, die sich durch mündliche Überlieferung erhielten. Viel klassische Lyrik, etwa die Gedichte von Walther von der Vogelweide, sind zunächst Lieder gewesen, deren Melodien sich nicht erhalten haben.
Das ist die Brücke, die wir vom deutschen Wort „Lyrik“ (formaler Sammelbegriff für Gedichte) zum englischen „Lyrics“ (Liedtext) schlagen können. Ein „Lyricist“ ist nicht ganz allgemein ein Dichter, er ist ein Songtexter – oder wie einige Fremdwörterbücher es einengend sagen: ein „Schlagertexter“. Ohne Musik ist im Englischen von „Poetry“ die Rede, von Poesie. Und „Poesie“ wiederum meint hierzulande die Dichtkunst, insbesondere die Versdichtung. – Jahrhundertelang war es gewissermaßen der Markenkern der Lyrik, dass sie sich reimte.

Das Wort Versdichtung wird, lässt man nur einen Buchstaben weg, zum Stammwort: Verdichtung. Dem Gedicht gelingt es, durch Fokussierung auf das Wesentliche / eine Auswahl des Entscheidenden, aus einem Gedanken einen Refrain zu machen, der uns einleuchtet und dadurch besser im Gedächtnis bleibt. Das wird durch das Hinzukommen der musikalischen Ebene noch verstärkt, und es funktioniert ganz unabhängig davon, ob wir mit der Botschaft einverstanden sind oder ob wir die Melodie mögen – wie jeder bestätigen kann, der einmal einen hartnäckigen Ohrwurm hatte.

Bereits ohne Melodie bekommen die Worte durch den Reim etwas Musikalisches. Das erhöht auch ihre Eignung, gespeichert und lange im Kopf behalten zu werden. Wie ein Kinderlied, an das wir uns erinnern können, auch wenn wir es viele Jahre nicht gehört oder gesungen haben. Sogar Demenz kann diese gespeicherten Informationen mitunter nicht auslöschen.* Reim und Melodie waren unerlässlich bei der Überlieferung alter Mythen und Legenden.

Doch die Verdichtung hat noch einen weniger offensichtlichen Effekt: „Dass so vieles nicht gesagt wird, ist wie ein Sprungbrett in viele verschiedene Richtungen“, erklärt der Autor und Germanist Frieder von Ammon. Ein Kunstwerk lässt sich ausdeuten, während ein zweckmäßiger Text – eine Anleitung, ein Gesetz, ein Befehl – eben dies nicht will. Unser Hirn bekommt etwas zu tun, wenn es eine Deutung vornimmt. Das muss nicht kompliziert sein: „Wir sollten uns freimachen von der Vorstellung, dass man ein Gedicht wie ein Rätsel lösen muss.“ Aber es ist ein Angebot an unsere Fantasie und fördert unsere Kreativität.

Was Frieder von Ammon über die Poesie sagt, gilt für jede Art von Kunst und ganz besonders für die Musik: „Wir brauchen Gedichte nicht wie Brot und Wasser, um zu überleben. Wir brauchen sie nicht wie einen Hammer, um ein Haus zu bauen. Aber wir benötigen sie seelisch, und das ganz dringend.“ Dass Gedichte ganz automatisch von der Sprache des Alltags abweichen – so wie Musik z.B. vom Straßenlärm abweicht -, verleiht ihnen ihre eskapistische Qualität, diese typische Fähigkeit der Kunst, zu unserer Zerstreuung beizutragen. Bemüht sich ein Künstler aber allzu sehr darum, uns zu gefallen, löst sich der zerstreuende Charakter wieder auf, und es entsteht Kitsch. Oder etwas noch weitaus Unschöneres: „Wenn ein Gedicht runtergeht wie Butter, dann ist es vermutlich Propaganda. (…) Gute Lyrik bringt Störfaktoren ins Spiel. Etwas, das nicht darauf ausgerichtet ist, sofort verstanden zu werden.“

Das Bild vom Lied, das sich in der Erinnerung festzusetzen vermag (wie das Bier aus Fernsehwerbung, das länger prickelt als man trinkt), fand immer wieder Eingang in die Kunst. Salman Rushdie sagte zwei Monate vor dem Attentat, das er nur knapp überleben sollte, in einem Interview: „Nachdem Orpheus in Stücke gerissen worden war, schwamm sein abgeschlagener Kopf den Fluss Hebros hinab und hörte nicht auf zu singen, was uns daran erinnert, dass der Gesang stärker ist als der Tod.“ In den Worten von Irving Berlin: „The song is ended, but the melody lingers on.“
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* Siehe https://blog.montyarnold.com/2015/08/07/nachmittag-eines-spions-1/ und die Fortsetzungen.

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