Rezensionsnostalgie

betr.: Uwe Tellkamp

Wenn ich mich dieser Tage durch das praktisch einhellige Entsetzen über Uwe Tellkamps lang erwarteten Roman „Der Schlaf in den Uhren“ hindurchlese, fehlt mir (noch mehr als ohnehin) der alte Marcel Reich-Ranicki. Dass in den genannten Rezensionen nicht nur Tellkamps Buch verrissen, sondern auch das zuletzt viele Menschen betrübende politische Verhalten des Autors beklagt wird, passt ins Bild.
Die Situation erinnert auffallend an das Echo von „Ein weites Feld“ von Günter Grass (auch dies ein „Wenderoman“). Dass eine solche Aufregung über eine Belletristik-Neuerscheinung heute undenkbar wäre, liegt hauptsächlich am Fehlen einer Figur wie Reich-Ranicki. In der kurzen Zeit des großen Erfolgs seines Nischenformats „Das literarische Quartett“ war Literatur wirklich ein Thema, das das Publikum umtrieb (in einem Ausmaß, das schon an den Boulevard heranreichte). Und so sehr sich Grass damals über seine(n) Kritiker aufgeregt hat, dieser Umstand kann auch ihm nicht missfallen haben.

Noch eine Reich-Ranicki-Situation kam mir wieder zu Bewusstsein. Irgendwann, wenige Jahre nach dem Mauerfall, beklagte er sich in seiner Runde, dass die Wenderomane auf sich warten ließen, die uns das System von innen heraus beschreiben könnten. Diese Manuskripte mussten doch unzweifelhaft zahlreich in einem Akt der Inneren Emigration von den ostdeutschen Schriftstellern verfasst und bis zum Mauerfall in der Schublade verstaut worden sein. Es war doch eigentlich unausweichlich, dass solche Arbeiten namhafter Verfasser nur darauf gewartet haben, endlich erscheinen zu dürfen. Reich-Ranicki formulierte seine Enttäuschung mit dem üblichen Unterhaltungswert, er sagte so etwas wie: „Wir dachten alle, nun würden die Schubladen geöffnet, und das Talent würde förmlich herausspritzen. Weit gefehlt! Die Schubladen gingen auf und: nichts war drin!“ – „Nichts war drin!“, sekundierte beinahe unisono der traurige Hellmuth Karasek.

Heute haben wir die Bestätigung. Der anerkannte „große Roman zur deutschen Wiedervereinigung“ ist tatsächlich erst in der Zeit der Berliner Republik entstanden: Uwe Tellkamps „Der Turm“. Zum allgemeinen Jubel über dieses Buch konnte sich das „Quartett“ schon nicht mehr verhalten. Und zu seiner Fortsetzung „Der Schlaf in den Uhren“ noch weniger.
Eins steht fest: ihre 1000 Seiten wären Marcel Reich-Ranicki zu viel gewesen, selbst wenn sie ihm inhaltlich zugesagt hätte.

Dieser Beitrag wurde unter Fernsehen, Gesellschaft, Literatur abgelegt und mit , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert