Unter keinem Dach ein Ach

betr.: 19. Todestag von Winston Graham

Unser kultureller Mainstream durchläuft einen Zeitgeist, in dem unentwegt das Loblied auf die Institution der Familie gesungen wird. Gegenwärtig erscheint diese Keimzelle der Gesellschaft und des christlichen Abendlandes als ein Raum, in dem keine Gefahren drohen, keine Probleme lauern sondern deren Lösung wartet und in dem auf Loyalität und Fürsorge immer Verlass ist. Die unvermeidlichen Spannungen unter Angehörigen erscheinen schlimmstenfalls als harmloses Gerangel, und jedes Ungemach, das im wirklichen Leben auf die Nähe familiärer Strukturen angewiesen ist, wird geleugnet.
Dies geschieht sowohl in Genres, die (unwohlverstanden) dafür prädestiniert sind (romantische Komödien, Kinderfunk, Disney-Filme …) als auch dort, wo es mit einem Gewissen Aufwand hergeleitet werden muss („Star Wars“, Superheldenfilme, Thriller, Actionfilme …).
Die kreative Beschneidung durch diese einseitige Darstellung könnte auch glücklichen Familienmenschen auffallen. Sie bremst das erzählerische Konfliktpotenzial aus, das für wirklich fesselnde Erzählungen unerlässlich ist (von einem freiwilligen Realitätsverzicht ganz zu schweigen). Eine Unmenge großer Literatur und großen Theaters beruht auf solchen Konflikten, außerdem eine Unmenge amüsanter Seifenopern aus den 80er Jahren.

Ein Autor, der gegenwärtig in Redaktionen und Produktionsgesellschaften keinen Fuß auf den Boden bekäme, ist sicherlich Winston Graham, der die Romanvorlage für „Marnie“ lieferte und mit „Debbie“ (verfilmt unter dem Titel „The Walking Stick“) eine weitere junge Frau in Nöten in den Mittelpunkt stellte. Während sich bei „Marnie“ der familiäre Ursprung der schwelenden Schwierigkeiten erst im dritten Akt herausstellt, umfängt die abends heimkehrende Debbie schon im ersten Kapitel eine unverkitschte häusliche Atmosphäre. Sie schildert sie uns in der Rolle der Erzählerin.*

Vater und Mutter waren zu Hause; sie hatten das Abendessen schon fast hinter sich. Wir aßen immer in der Küche, sommers wie winters und sogar dann, wenn wir Besuch hatten. Es war ein langer Raum, der an ein Eisenbahnabteil erinnerte; am einen Ende war viel Platz zum Kochen und am anderen zu Essen. Die Gegend um den Herd sah wie der Kommandostand eines Weltraumfahrzeugs aus.
Abgesehen von meinem Schlafzimmer war die Küche der einzige gemütliche Raum im Haus.

Als ich hereinkam, war Dr. J. Douglas Dainton, Member oft he Royal College of Surgeons, Licentiate oft he Royal College of Physicians, gerade damit beschäftigt, einen Schmelzkäserest aus dem Silberpapier auf ein Knäckebrot zu kratzen. Gegen den Toaster gelehnt war ein Buch über Herzkrankheiten, das er zur gleichen Zeit zu lesen versuchte. Dr. Erica Dainton, Medicinae Baccalaureus, Chirurgiae Bacalareus, rührte in ihrer Kaffeetasse und las irgendein Paperback für Intellektuelle, dessen Titel ich nicht erkennen konnte. Als sie mich erblickte, gab sie der Brille auf ihrer Nase einen leichten Stups und sagte: „Du kommst wieder sehr spät. Bist du auf einer Party gewesen?“ – Sie wartete ständig darauf, dass ich plötzlich ein fröhliches Eigenleben entfalten würde.
„Nein, ich hab bloß meine Arbeit fertiggemacht. Habt ihr mir was zu Essen übriggelassen?“
„Selbstverständlich. Aber es wird längst kalt sein. Es kam auf den Tisch, bevor Minta gegangen ist.“
Mein Vater sah von seinem Silberpapier hoch und lächelte mich mit seinem Arztblick an. „Du bist ja ganz durchnässt, Debbie. Gott sei Dank muss ich heute nicht raus.“
Er ergriff das saubere Messer, das eigens zu diesem Zweck neben seinem Teller lag, und blätterte damit eine Seite um.
Nach einem kurzen Austausch über den öffentlichen Nahverkehr und dem Hinweis, Sarah habe für mich angerufen, war die Unterhaltung für den Augenblick erschöpft. In unserer Familie wurde eine Menge diskutiert, aber im Austausch von Banalitäten waren wir nie sehr gut. Als meine Mutter merkte, dass ich nichts mehr zu sagen hatte, zog sie ihre Brille dankbar wieder auf die Nasenspitze herunter. 


So etwas erzählt uns ein Autor (zumal gleich zu Beginn) nicht ohne Hintergedanken. Ich begann Übles zu ahnen.
Als ich diesen Text gemeinsam mit einem meiner Schüler analysierte (ein junger Mann Anfang 30, dessen Lebensgefährtin die Gründung einer Familie plant), meinte dieser, das seien doch alles sehr liebe Menschen.
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* Die Textpassage wird leicht gekürzt wiedergegeben.

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