Die wiedergefundene Textstelle: Am Ufer der Schmach

Bei G. K Chesterton findet sich eine prächtige Studie in Paranoia. In der „Pater Brown“-Geschichte „Cäsars Kopf“ („The Head of Caesar“ vom Juni 1913) ist der Titelheld eher eine Nebenfigur – wie so oft. Größeren Raum nimmt eine junge Frau ein. Sie hat eine Münze aus der Sammlung ihres Bruders mitgehen lassen (nicht aus Habgier, sondern aus einer Laune heraus, um ihn zu ärgern). An einem Strand nimmt ihr schlechtes Gewissen handfeste Gestalt an.

Da durchblitzte mich die Vorstellung, ein Unbekannter würde mich von den Dünen her anstarren. Eine Sekunde später glaubte ich doch eher an einen Streich meiner Nerven, denn der Mann war nur als ein kleiner schwarzer Punkt am Horizont zu erkennen, und es war kaum anzunehmen, dass er mich deutlicher sehen konnte. Was ich sicher erkennen konnte, war eine unbewegte Gestalt, die mit schräg geneigtem Kopf in die Gegend schaute. Es gab keinen logischen Beweis, dass er nach mir ausschaute – vielleicht betrachtete er ein Schiff, das Spiel der Möwen, erfreute sich am Sonnenuntergang oder beobachtete einen der anderen Menschen, die sich am Strand aufhielten. Aber meine Befürchtung erwies sich als richtig, denn als ich nun genauer hinsah, bewegte er sich weit ausschreitend über den nassen Sand geradewegs in meine Richtung. Als er näher kam, konnte ich erkennen, dass er dunkelhaarig und bärtig war und die Augen mit einer dunklen Brille verdeckte. Er war ärmlich aber recht ordentlich ganz in Schwarz gekleidet, angefangen beim alten Zylinder auf seinem Kopf bis zu den festen Stiefeln an seinen Füßen. Ohne auf dieses Schuhwerk zu achten, marschierte er in das Wasser hinein und kam mit der Gleichmäßigkeit eines abgefeuerten Geschosses auf mich zu.
Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Empfindungen in mir aufstiegen: mir schien als habe der Unbekannte geradewegs eine Klippe überwunden und ginge nun seelenruhig mitten in der Luft weiter, so unbekümmert durchbrach er die Schranke zwischen den Elementen. Mir kam es vor als würde ein Haus durch die Luft segeln oder der Kopf eines Menschen. Denn obwohl er nicht mehr tat als mit den Schuhen ins Wasser zu gehen, machte er doch den Eindruck eines Dämons, der wissentlich ein Gesetz unserer Natur verhöhnt. Hätte er nur eine Sekunde vor Betreten des Wassers gezögert, wäre der Spuk dahingewesen. So aber schien er nur Augen für mich zu haben und das Meer gar nicht wahrzunehmen.
Anmutig tänzelte er über den glitschigen Grund der mit Algen bewachsenen Steine auf seinem Weg.
Jetzt war er bis auf zwei Armlängen an mich herangekommen, das Wasser reichte ihm bis zur halben Kniehöhe. Die farbigen Brillengläser waren nicht ganz undurchsichtig, sondern aus ganz gewöhnlichem blauem Glas. Auch die Augen dahinter flackerten nicht unruhig, wie ich es erwartet hätte, sondern waren fest auf mich gerichtet. Sein dunkler Bart war weder besonders lang noch wild. Er sah nur etwas ungewöhnlich aus, weil er gleich knapp unter den Backenknochen begann. Die Gesichtsfarbe des Mannes war weder bleich noch fahl, sondern im Gegenteil eher frisch und jugendlich. Doch trug seine Haut den wächsern rötlichen Teint einer Frisierpuppe, und das vermehrte das Gefühl der Gefahr und des Grauens, das mich bei seinem Anblick packte.
Das einzig wirklich Außergewöhnliche daran war die Nase, die – im Übrigen gut geformt – an der Spitze ein wenig zur Seite gebogen war, so als hätte man sie gleich nach der Geburt mit einem Kinderhämmerchen traktiert. Man konnte nicht von einer Deformation sprechen, und fand ich sie beunruhigend.
Als der grässliche Kerl, so unangreifbar wirkend, in dem von der untergehenden Sonne tiefrot gefärbten Wasser vor mir stand, kam er mir wie ein höllisches Seeungeheuer vor, das eben brüllend aus einem Meer von Blut aufgestiegen war.
Ich weiß nicht, warum mich diese kleine Krümmung seiner Nasenspitze so anstachelte. Sie schien der einzig bewegliche Teil seines Gesichtes zu sein. Ich stellte mir vor, er könnte sie wie einen Finger bewegen. Und als habe er eben genau das getan. Von der linken zur rechten Seite. Wie einen Elefantenrüssel.

Dieser Beitrag wurde unter Krimi, Manuskript, Übersetzung und Adaption abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert