Unerhörtes aus dem Archiv

betr.: 113. Geburtstag von Hans Carste

Als Freund nutzlosen Wissens aus dem Themenkreis „Funk und Fernsehen“ habe ich mir schon bei der ersten Gelegenheit den Namen des Komponisten der Tagesschau-Fanfare gemerkt: Hans Carste. Erst viel später schnappte ich auf, dass es ein Rahmenwerk dazu gibt. Der Komponist hat die Tonfolge gar nicht als Jingle konzipiert, sondern als Abschluss einer sinfonischen Dichtung. Der Titel „Hammond-Fantasie“ verrät uns ihr charaktervolles Solo-Instrument: eine Orgel, die vor allem im Jazz und in der Popmusik der Nachkriegszeit zu Hause ist – und auch dort auf viele Ohren etwa so anheimelnd wirkt wie ein Dudelsack. Die Hammond-Orgel – sie ist im ursprünglichen Arrangement des Tagesschau-Openings tatsächlich noch zu hören – lässt ahnen, dass es sich um eine reichlich kuriose Komposition handeln könnte.

So sah der Meister aus – das besprochene Werk findet sich leider nicht in dieser Sammlung „unvergänglicher Melodien“.

Da ich für sinfonische Dichtungen (besonders für kuriose) eine Schwäche habe, habe ich mir das achtminütige Stück bei einem Radio-Wunschkonzert geordert und sauber fürs eigene Archiv mitgeschnitten (man findet es in kleinerer Auflösung freilich auch auf YouTube).
Die emotionale Wirkung, die der Genuss der „Hammond-Fantasie“ über große Lautsprecher auf mich hatte, kann ich kaum beschreiben. Mein Kopfkino lief auf Hochtouren. Immer wieder musste ich auflachen –nicht aus Spott, sondern weil ich mich so gut amüsierte. Die Blechbläser im Mittelteil klingen sehr nach Wirtschaftswunder-Jazz, doch die Partitur ist so elegant, dass sich das Stück souverän aus der Kleinbürgerlichkeit dieser Assoziation erhebt.
Hans Carstes „Hammond-Fantasie“ ist ein Meister- und Kabinettstückchen zugleich, ein ganz großer Hit von der Größe und Kostbarkeit des „Warschauer Konzerts“ von Richard Addinsell mit dem Unterhaltungswert der Stummfilmmusik von Fred Strittmatter und Quirin Amper jr.: es ist skurril und unbeugsam (aber niemals „humorig“!), es ist sinfonischer Slapstick. 

Der in Wien ausgebildete Hans Carste war ein gutbeschäftigter Unterhaltungs- und Filmkomponist  im Dritten Reich, außerdem frühes Parteimitglied. Er musste dennoch an die Ostfront, wo er schwer verwundet in Gefangenschaft geriet. Dort soll die erste Niederschrift der „Hammond-Fantasie“ entstanden sein.
In der Bundesrepublik machte Carste später eine beachtliche Karriere – etwa beim RIAS und bei der GEMA – und bleibt ferner als Schöpfer solcher Schlager wie „In der Schweiz“ und „Küß mich (bitte, bitte küß mich!)“ in Erinnerung.
Carste starb 1971. Allein die sechs Tönchen der Tagesschau haben seiner Witwe Grit-Sieglinde noch bis ins neue Jahrtausend hinein eine monatlich vierstellige GEMA-Ausschüttung beschert.

Dieser Beitrag wurde unter Fernsehen, Filmmusik / Soundtrack, Hörfunk, Medienkunde, Musik abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert