Abhören ist nicht gleich Anhören

betr.: Schreiben für mediale Zwecke

Der legendäre Show-Unternehmer Ahmet Ertegun (1923-2006) – bitte googeln! – erzählte im Besitz großer Berufserfahrung diese Geschichte:

Einer meiner erfolgreichsten Künstler, ich möchte seinen Namen nicht nennen*, kam einmal mit vier Stücken in mein Büro und sagte völlig begeistert: „Das sind die vier Hits zu meinem Album. Ich habe sie meinen Freunden vorgespielt, und sie finden’s toll!“ Ich sagte: „Auf Freunde sollte man sich in solchen Fragen nie verlassen – das werden niemals Hits.“ Am selben Tag war eine Platte in der Post gewesen, die mir meine Mitarbeiter zum Amüsieren hochgeschickt hatten, weil sie so unfassbar schlecht war. Der Kerl konnte nicht singen, die Texte holperten, und seine Gitarre war nicht einmal gestimmt. Ich lege also dieses Stück Dreck auf den Plattenteller und hole zwei Mädchen vom Gang, irgendwelche Sekretärinnen, und sage: „Das ist die neue Platte von unserem sehr berühmten Künstler hier. Wie findet ihr die?“ Und die Sekretärinnen sagen: „Toll, wunderbar, Gratulation!“ Als sie wieder draußen waren, sagte ich zu unserem sehr berühmten Star: „Verstehst du jetzt, was passiert, wenn einer wie du Leute fragt, wie sie deine Platten finden? Du bekommst alles – nur keine ehrliche Antwort!“

Ertegun beschreibt hier ein Prinzip, das unter umgekehrten Vorzeichen der als „Hausfrauentest“ sowohl in den Sprachgebrauch als auch in die mediale Terminologie eingegangen ist. Üblicherweise läuft diese Prozedur so ab: ein Produkt wird einer als repräsentativ angenommenen Gruppe vorgeführt, um die Fehler zu finden, die ein ansonsten fertiggestelltes Produkt enthält – das können die beschriebenen spontan herbeigerufenen Leute aus dem Haus sein, zumeist handelt es sich um ein Testpublikum, das planmäßig in einem Vorführraum platznimmt. In jedem Fall treten hier nicht unbefangene Betrachter zusammen, die das Kunstwerk in der natürlichen Situation und Gemütsverfassung ihres Medienkonsums antreffen, sondern um Menschen, die wissen, dass sie anschließend nach ihrer Meinung gefragt werden. Wenn sie diese bekanntgeben, ist sie bereits durch mehrere Filter gelaufen, und die Freude über die vorübergehend erlangte Macht, den Daumen heben oder senken zu dürfen und damit möglicherweise etwas auszurichten, wird ihre Auswirkung auf die abgegebene Bewertung haben.

In einer vom Volksmund abgeschliffenen Feststellung Werner Heisenbergs wird es sinngemäß so beschrieben: Der beobachtete Gegenstand (in diesem Falle der Test-Zuschauer) ändert sein Verhalten durch den Umstand der Beobachtung – im Gegensatz zu der präsentierten Aufnahme.

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* Ertegun: „Nein, Mick Jagger war es nicht, aber er hätte es sein können.“

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