Die Überwindung des Frühlings

betr.: Frühling (drei Monate früher als bisher!)

Die Wiener Biologin Kristin Tessmar-Raible sprach vor wenigen Jahren mit dem Magazin „brand eins“ über die Innere Uhr bei Mensch und Tier. Es ist ein rätselhaftes Forschungsgebiet. Auffallend oft erklingt in diesem durchaus instruktiven Gespräch der Satzbaustein: „Offen bleibt die Frage nach dem Warum und dem Wie.“
Der Chronobiologe Jürgen Aschoff, hat im Rahmen eines Experiments immerhin herausgefunden, dass der menschliche Körper eine knappe Dreiviertelstunde nachgeht. Das in dessen Genen festgeschriebene Zeitgefühl geht erst nach 24,7 Stunden davon aus, dass ein Tag und eine Nacht vorüber sind.
Auch hierfür ist der Grund unklar. Aber es passt zu der oft gemachten Erfahrung, dass den meisten Menschen Interkontinentalflüge Richtung Osten schwerer fallen als jene nach Westen. Da wir ohnehin mit innerer Verspätung leben, kommt uns ein Flug dorthin, wo wir die Uhr zurück stellen müssen, biologisch entgegen.
Wie gut wir letztlich mit solchen Jetlags klarkommen, liegt in unserem persönlichen Chronotyp begründet – darin also, ob wir Eulen (Nachtmenschen) oder Lerchen (Morgenmenschen sind).
Ich könnte gar nicht sagen, welcher Sorte ich zuzurechnen bin. Ich komme jeden Tag nur unter Qualen aus dem Bett, und zwei oder drei Stunden früher aufzustehen ist dann keine große Verschlimmerung. Angeblich neigen Männer eher zum Eulentum (ich wirklich gern lange auf) und Frauen zum Lerchentum.
Um es noch komplizierter zu machen: auch das Alter spielt eine Rolle. Wenn wir nur lange genug leben, haben wir uns unserem polargeschlechtlichen Gegenüber angenähert.
Schichtarbeit (also ein weitverbreiteter Fall von Social Jetlag) ist etwas, worauf sich die Forscherin niemals einlassen würde. Die regelmäßige Missachtung unserer jahrtausendealten inneren Uhr fördert Depressionen und sogar das Krebsrisiko.

Immerhin in einem Punkt haben wir es leichter als die – wie gesagt – ebenfalls von der Unflexibilität ihres zeitlichen Gepräges gelenkten Tiere: viele marine Arten pflanzen sich durch äußere Befruchtung fort, bei der das Männchen Samen und das Weibchen Eier ins Wasser abgibt. Wäre dieser Prozess nicht synchronisiert – etwa durch den Mond – würden die Geschlechter einander verfehlen.
Wenn wir den Gedanken weiterführen, dass Mensch und Tier im selben Boot sitzen, sobald es um die Knute der Inneren Uhr geht, kann der Mensch da nur von Glück sagen, dass er sich in diesem Punkt von seinen tumberen Mitgeschöpfen emanzipiert hat. Wenn auch Witzeschreiber, Poeten und Schlagertexter das gern anders darstellen: der Frühling ist längst nicht mehr die Zeit, in der wir unsere sexuellen Bedürfnisse synchronisieren müssen.
Eine Schattenseite, die diese Jahreszeit wiederum nur für den Menschen aufweist, stellt die Gerechtigkeit halbwegs wieder her. Wie uns Tessmar-Raible außerdem mitteilt, ist die Selbstmordrate nämlich in keiner anderen Jahreszeit so hoch wie in holden Lenz. Weltweit und in allen Kulturen.
Moment mal! Sollte das nicht eher in den trüberen Jahreszeiten der Fall sein. Oder in Hamburg? Keineswegs!
Und warum? Wieder Fehlanzeige. Man sieht die Forscherin förmlich achselzucken, wenn man liest: „Eine Erklärung könnte darin liegen, dass die Neurotransmittersysteme, die uns aktivieren, im Herbst und im Winter heruntergefahren sind. Wenn die Tage wieder länger werden, werden sie wieder aktiver. Möglicherweise finden die Menschen im Frühjahr erst die Kraft, ihrem Leben ein Ende zu setzen.“
Also plumpe Lahmarschigkeit und Prokrastination? Ich habe eine andere Theorie. Wenn im Frühjahr alles ergrünt und aufblüht und man selbst – von linden Lüftchen vor die Tür geweht – all des Paarens, Lebens und Webens schonungslos angesichtig wird, kann man auf Idee kommen, an sich selbst herunterzublicken. Na, alter Junge, wie sieht’s denn bei dir aus mit dem Leben, Weben und Paaren?
Für manche ist dieser Vergleich einfach zu viel! Vergleichen führt nämlich auch zu Depressionen, genau wie Schichtdienst. 

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