Aus dem Mutterland der Philosophie

betr.: 140. Geburtstag von Nikos Kazantzakis

„Alexis Sorbas“ ist ein Filmklassiker, der mir (obwohl er aus der Mitte der 60er Jahre stammt) seltsam fremd geblieben ist. Ich habe Freude an der berühmten Filmmusik und amüsiere mich darüber, dass der Film den Sirtaki in die Welt gesetzt hat (den wir seither für ein uraltes griechisches Nationalphänomen halten). Außerdem liebe ich natürlich die ikonische Schlusssequenz.
Doch die befremdlichen Aspekte überwiegen. Folklore ist mir immer dann suspekt, wenn regionale Eigenheiten nicht einfach beschrieben, sondern aufgejazzt und verherrlicht werden. Außerdem erblicke ich in dem Film auch einen verkappten Lebens- und Glücksratgeber der gefälligen Sorte. Unbesehen bringe ich der Romanvorlage den gleichen Vorbehalt entgegen. Was ich allerdings gelesen habe, ist die Autobiographie des  Schauspielers Anthony Quinn. Er hat mit der Darstellung jenes „urwüchsigen Philosophen des einfachen Herzens“ Alexis Sorbas seinen Weltruhm manifestieren können. Und er bestätigt meinen Verdacht – mit umgekehrten Vorzeichen. Für ihn war Nikos Kazantzakis‘ Literatur eine Offenbarung und der Grund, die Rolle überhaupt spielen zu wollen.
Quinn wartete in einem Hotelzimmer in Paris auf das Abklingen eines rätselhaften Hautleidens, das ihn völlig entstellte und die Fortsetzung seiner Dreharbeiten verhinderte.

In der Zwischenzeit zitierten die Produzenten Spezialist um Spezialist herbei. Ich sah Ärzte aus aller Welt, sie probierten es mit ätzenden Lösungen, Röntgentherapie und Medikamenten, die mir fast die Eingeweide verbrannten. In jeder anderen Hinsicht ging es mir gut …
Zum Schluss empfahl jemand einen älteren Arzt in einer dunklen Seitenstraße in einem schäbigen Pariser Viertel. Der Mann galt als Quacksalber, aber was kümmerte mich das? Ich war bereit, alles zu versuchen.
Als ich ihn in seinen Räumen aufsuchte, glaubte ich, mich verirrt zu haben. Überall auf dem Boden lagen Zeitungen und Arzneiflaschen verstreut; die Bücher stapelten sich fast bis an die Decke.
Um mich vor den Blicken der Passanten zu schützen (und sie vor mir!), kam ich mit einer Seidenmaske bei ihm an. In seinem Büro nahm ich sie ab und zeigte dem alten Mann die Bescherung.
„Sie sind hier, um den Quasimodo zu spielen?“ fragte er, während er mein Gesicht unter einer großen, zersprungenen Lupe untersuchte. Ich hatte ihm die Geschichte am Telefon erzählt.
„Ja.“
„Und nun sehen Sie aus wie ein Monster?“
„Ja.“
Er dachte eine Weile darüber nach und fing dann zu lachen an.
„Was ist daran so lustig?“ wollte ich wissen.
„Haben Sie schon einmal von Kazantzakis gehört?“ fragte er. Ich überlegte, welche Art von Säure das nun wieder wäre.
„Nein“, erwiderte ich. „Was ist das?“
„Es ist kein ‘das‘“, sagte der Alte, „sondern ein ‘er‘. Nikos Kazantzakis ist ein Schriftsteller.“
Jetzt war ich sicher, dass ich am falschen Ort war. Vielleicht handelte es sich ja in Wirklichkeit um ein Antiquariat. Der Alte suchte in den staubigen Bücherstapeln herum. Unter einem schmutzigen Waschbecken fand er schließlich das gesuchte Buch. Er klopfte es an seiner Hose ab und musste von dem Staub husten. Er lachte wieder.
„Hier“, sagte er und reichte mir das Buch. Es sah aus, als hätte es schon einiges hinter sich. „Nehmen Sie es mit, und lesen Sie es!“
„Und was ist mit meinem Gesicht?“ fragte ich.
„Ach“, meinte er, „das ist halb so schlimm. Sie wollten wissen, wie es ist, ein Monster zu sein. Jetzt wissen Sie es. Gehen Sie nach Hause und waschen sich das Gesicht mit Mineralwasser ab. Keine Seife. Und ab und zu tupfen Sie es mit Kampferlösung ab.“
Ich fischte in meiner Tasche nach ein paar Geldscheinen und überlegte dabei, ob ich den Mann nun als Arzt oder Buchhändler honorieren sollte.
Doch er hob die Hände. „Kein Geld“, sagte er.
„Und was ist mit dem Buch?“
„Das ist ein Geschenk. Eines Tages werden Sie es sicher weiterverschenken.“
Zurück im Hotel, wusch ich mir das Gesicht mit Wasser aus der Flasche und betupfte es mit der brennenden Kampferlösung. Alles schien sich nur noch mehr zu entzünden. Dann legte ich mich ins Bett und schlug das Buch auf. „The Saviors Of God“. Es ging um Bewusstsein und Unterbewusstsein, um die Welt oben und die Welt unten.
Ich schlief nicht, bevor ich die letzte Seite umgeblättert hatte. Bei Kazantzakis erkannte ich die großen Denker wieder: Nietzsche, Dante, Buddha. Und doch war dieser Mann eine eigene Schöpfung, ein echtes Original. Ich kannte keinen vergleichbaren Autor. Es war April 1956, das letzte Lebensjahr Kazantzakis‘. Als ich das Buch auf das Nachttischchen legte, hatte ich das Gefühl, als beginne mein Leben noch einmal von vorn.
Ich schlief wie ein Toter, zwanzig Stunden am Stück. Als ich aufwachte, stellte ich fest, dass mein Gesicht besser aussah. Ich wirkte zehn Jahre jünger. Ich wiederholte die Behandlung mit Mineralwasser und Kampferlösung und rief das Studio an, um meine Genesung zu melden. In ein paar Tagen könnte ich vielleicht wieder arbeiten.
Ich befolgte die Anweisung des Arztes nicht und behielt das Buch. Ich ließ mich mit dem nächsten Buchladen verbinden, wo man mir einen weiteren Titel von Kazantzakis empfahl und ihn mir aufs Zimmer schicken ließ. Ich legte mich wieder ins Bett und verschlang das Buch.   
Es handelte von einem verrückten alten Esel namens Sorbas, der zwischen Geist und Fleisch gefangen war. Das Fazit lautete in etwa, dass die wahre Mühe des Lebens nicht in der Freiheit an sich, sondern in der Suche nach Freiheit lag, und dass ein Mann das Glück nur finden kann, wenn er es auch wirklich sucht.
Bis heute besitze ich die zerfledderte Ausgabe von „The Saviors Of God“, gezeichnet mit meinen Unterstreichungen und Randnotizen. Ich habe auch noch das ähnlich vollgeschriebene erste Exemplar von „Alexis Sorbas“. Ich habe beide Bücher noch immer nicht ganz verdaut. Und ich weiß auch nicht, ob mir das jemals gelingen wird.

Der  Buchauszug ist eingekürzt.

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