Lesen vom Blatt: Lange Sätze

betr.: Übung / Sprechen am Mikrofon

Fortsetzung vom 20. März 2023

Um das Anliegen zu unterstützen, den Vortrag langer Sätze zu trainieren, werden in dieser Rubrik Beispiele gereicht, die unverdächtig sind, den Satz nur aus Gründen der Effekthascherei auf seine Länge gebracht zu haben. Es geht um die Musik der Sprache!
Bei einem Autor wie Thomas Pynchon (22 Jahre alt, als er die untenstehenden Zeilen verfasste) könnte man durchaus auf die Idee kommen, er bringe seine Gedanken gerne in möglichst monströsen Konstrukten unter, auch wenn ihnen (und dem Leser / Hörer) etwas mehr Luft zum atmen guttäte. Urteilen Sie selbst!

Und fast jedes Mal, besonders wenn er von der vorangegangenen Nacht einen Kater nachschleppte oder wenn eine Frau, die jüngeren Diplomatenkollegen zufolge eine sichere Sache war, sich plötzlich als so viel mehr als sicher herausstellte, so dass das Ganze schlussendlich nicht einmal die paar Drinks wert gewesen war, pflegte er seinen Kopf zu schütteln wie ein Betrunkener, der nicht mehr doppelt sehen möchte, da er sich plötzlich des Gewichts der Aktentasche und der Bedeutungslosigkeit ihres Inhalts bewusst geworden war und der Dummheit dessen, was er hier tat, weit weg von Rachel, auf einem finsteren, aber klar bezeichneten Weg durch einen Dschungel von Pfändungen und Beeidungen und juristischen Aussagen; er fragte sich, warum er sich in den ersten Tagen beim Untersuchungsausschuss überhaupt je als eine Art Wunderheiler hatte betrachten müssen, wenn er ja doch immer gewusst hatte, dass einen Wunderheiler – eigentlich für einen Propheten, denn wenn man das Ganze überhaupt ernst nahm, musste man beides sein – Abrechnungstabellen oder juristische Verwicklungen nicht kümmerten, und dass man in dem Moment, wo man sich auf so etwas einließ, etwas Geringeres wurde – ein Arzt oder ein Wahrsager.

Der nächste Satz ist etwas schlanker:

Als er dreizehn gewesen war, etwas weniger als einen Monat nach seiner Bar Mizwa, war seine Kusine Miriam an Krebs gestorben, und vielleicht hatte damals – als er auf einer Orangenkiste in einem verdunkelten Raum weit über dem Grand Concourse Schiwa saß und hager und, obschon erst dreizehn, ein wenig wie ein John-Buchan-Held aussah und starr auf den symbolischen Rasierklingenschnitt auf halber Höhe seiner schwarzen Krawatte starrte – diese Einsicht allmählich zu wachsen begonnen, weil er sich noch immer an Miriams Mann erinnerte, wie er Zeit, den Arzt, und das für die Operation hinausgeworfene Geld sowie die ganze American Medical Association verfluchte und enthemmt und schamlos in seinem düsteren heißen Zimmer hinter den heruntergelassenen Jalousien weinte, und das hatte Siegel als Jungen so verstört, dass er, als sein Bruder Mike fürs erste Medizinsemester nach Yale gegangen war, Angst hatte, etwas werde schieflaufen und Mike, den er liebte, werde schließlich, genau wie Zeit, bloß ein Arzt werden und eines Tages ebenfalls von einem desillusionierten Ehemann in zerrissenen Kleidern in einem dämmrig-zwielichtigen Schlafzimmer verflucht werden.

Thomas Pynchon: „Sterblichkeit und Erbarmen in Wien“

Dieser Beitrag wurde unter Mikrofonarbeit abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert