Möbel und Klamotten – Die wohlige Ortlosigkeit bei „Mit Schirm, Charme und Melone“

Fortsetzung vom 3. Dezember 2016

Die Ortlosigkeit einer erfundenen Geschichte ist besonders effektvoll, wenn uns eine Lokalisierung vorgetäuscht wird, die in Wahrheit gar nicht stattfindet. Die Serie „Mit Schirm, Charme und Melone“, deren stilbildende Episoden (die mit der Heldin Emma Peel) gerade im linearen Fernsehen wiederholt werden, macht dies auf exemplarische und sehr raffinierte Art. Einerseits ist die Vorgabe hochpräzise: das London der Gegenwart (der Swinging Sixties). Andererseits ergeben Zeit und Ort in dieser Kombination eines der markantesten Lebensgefühle des 20. Jahrhunderts und damit ein aus heutiger Sicht restlos erfunden wirkendes Setting, ein Großbritannien, das damals tatsächlich zumindest teilweise real war: eine beneidenswert heitere Welt des Aufbruchs, der Kreativität, des allgemeinen Wohlstands und der selbstironischen Einhegung nationaler Eigenheiten („Spleens“) und Heiligtümer. Ein Land, das sich mit Riesenschritten Richtung Zukunft bewegt – während sich sein heutiges reales Gegenstück mit dem Brexit und einer haarsträubend unseriösen politischen Klasse selbst die Kehle zudrückt.

Obwohl John Steed und Emma Peel (ein Duo mit dem verwechslungsträchtigen Originalnamen „The Avengers“) in London leben, sehen wir keine Londoner Außenaufnahmen – allenfalls Postkartenmotive des Themseufers oder unverfängliche Landschaftsbilder, die mit sexy Fahrzeugen durchreist werden, um zu den eigentlichen Schauplätzen vorzudringen. Diese Schauplätze wiederum sind topologische Atelierwelten: gruselige Gemäuer, futuristische Laboratorien oder schräge Arbeitsplätze (z.B. ein kitschig dekoriertes Eheanbahnungsinstitut, in dem heimlich Morde organisiert werden, oder eine angebliche Brennerei, in der in Wahrheit das Wetter manipuliert wird.)  

Als die Serie vor knapp 30 Jahren wieder einmal im Deutschen Fernsehen für gute Quoten sorgte, fand „TV Spielfilm“ diese griffige Formel (oben links) für das Faszinosum „Mit Schirm, Charme und Melone“.

Der Kunstgriff besteht also darin, sich im Schutze einer sehr konkreten Zeit- und Ortsangabe – unter Einhaltung eines wohlüberlegten Konzeptes – denkbar große Freiheiten zu nehmen. Im Hintergrund bildet der Kalte Krieg einen „angenehmen Gruselbackground“ (Franziska Fischer in „Mrs. Peel, wir werden gebraucht!“), ohne dass man sich auf politische Statements einlassen oder den Zuschauer mit ideologischen Botschaften behelligen würde. Die zu Beginn der Reihe auftretenden feindlichen Agenten sind nur Klischeefiguren, und sie weichen alsbald den Archetypen, die zu den beschriebenen Schauplätzen passen: verrückte Wissenschaftler, Roboter, Geister, Außerirdische und fleischfressende Pflanzen, die sie selbst im London der 60er einen überraschenden Anblick geboten hätten.
All das ist keineswegs so zufällig wie es vielleicht schon damals gewirkt hat. Die liebevolle Ausstattung und Einkleidung der Figuren und die damit bewirkte Vermeidung des „wirklichen Lebens“ macht nicht nur Spaß (und beeinflusst den Bekleidungsstil des Publikums), sie ist auch notwendig, damit diese Welt nicht in sich zusammenfällt. Showrunner Brian Clemens: „Neben einer Schlange ganz normaler Männer von der Straße, die auf den Bus warten, würde Steed wie eine Karikatur wirken!“

„Mit Schirm, Charme und Melone“ entkoppelt uns aber noch von einer anderen Realität, mit der wir Sterbliche sonst zu hantieren haben. „Konkrete Hinweise auf Tages- und Uhrzeiten werden (…) selten gegeben. Als Zuschauer verliert man bald aus den Augen, wieviel Zeit vergangenen ist, seit Steed und Peel die Ermittlungen aufgenommen haben. Liegen Stunden dazwischen? Oder Tage? Uhren, die die Zeit anzeigen, Menschen, die frühstücken, die morgens zur Arbeit oder abends ins Theater gehen, sieht man so gut wie nie. John Steed und Emma Peel existieren in einer Art Zeitvakuum: draußen ist es hell, also ist Tag; nach dem Aussehen der Landschaft und der Kleidung der Agenten ist es weder Sommer noch Winter, sondern irgendwie ‚neutrales Wetter‘, (…) und es ist immer genau die richtige Tageszeit für eine Tasse Tee oder, besser noch, für ein Gläschen Champagner“ (Fischer).
Wir sind buchstäblich der Erdenschwere enthoben. Einen so konsequenten Eskapismus kann sich die epische erzählte Serie heutiger Prägung nicht mehr erlauben.

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