Das Märchen vom Individualismus

Fortsetzung vom 21. April 2015

Es würde ja schon helfen, ein persönliches kulturelles Interesse zu entwickeln, etwa einen persönlichen Musikgeschmack. Dieser Faktor der Selbstbestimmung ist mit dem Siegeszug des Algorithmus im Leben des vernetzten Menschen praktisch zum Erliegen gekommen.

Es gibt natürlich einige, die sich gar nichts aus Musik machen, aber das dürfte eine Minderheit sein. Die meisten von uns werden davon – absichtlich oder unbewusst – im Alltag in ihrer Stimmung beeinflusst. Dass sich jemand zumindest nicht dafür interessiert, auf welche Weise das geschieht und in welche Richtung dieser Einfluss ihn lenkt, lässt sich daran erkennen, dass er auf die Frage nach seinem Musikgeschmack die Antwort gibt: „Ach, alles querbeet!“
Ansonsten wird die Antwort vermutlich auf die Musik hinauslaufen, die in der Jugend des Befragten gespielt wurde, also vor allem in den Charts der Ära. Kaum jemand emanzipiert sich von dieser biographischen Bevormundung, obwohl es doch angeblich um „persönlichen Geschmack“ geht.*

Die Serie „Guardians Of The Galaxy“ spielt mit diesem Aspekt, indem sie den Helden Peter Quill alias Star-Lord bei jeder Gelegenheit die Musik seiner Jugend hören lässt, und es ist glücklicherweise der Pop des Planeten Erde aus den 70er und 80er Jahren. Warum glücklicherweise? Nun, wäre es die Musik des Barock oder das Zitherspiel der Vulkanier, gäbe es weitaus weniger Identifikationspotenzial mit den Vorlieben des Publikums. Die Songs ließen sich auch nicht auf erfolgreichen Samplern und Playlists vermarkten. Und mancher Kinobesucher würde sich schon deshalb unwohl fühlen, weil gegen seine Hörgewohnheit, seinen persönlichen Algorithmus, verstoßen wird. Peter Quill wäre kein Held, sondern ein unangenehmer Sonderling.

Wenn ich in meinem Musicalklassen nach dem Lieblingsmusical fragte – in diesem Zusammenhang kein rein persönliche Frage, sondern eine professionelle Angelegenheit -, dann wurde mir ausnahmslos das erste Werk genannt, das die Studierenden jeweils live gesehen hatten, zumeist an der Hand ihrer gütigen Großmutter. Mitunter wurde diese Frage auch sehr leidenschaftslos beantwortet, mit kontrolliertem Widerwillen, so als hätte ich nach einer Allergie gefragt.
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* Siehe auch https://blog.montyarnold.com/2018/08/03/lieblingsfilme-zum-fuerchten/.

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