Wenn Kinder so dumm wären wie angenommen (2)

betr.: Schreiben für Film und Fernsehen

Fortsetzung vom 30. Juli 2023

„Leicht wird ein junges Herz zerbrochen,
glaubt es, dass alles Wahrheit sei.“
– Carl Millöcker, „Die Dubarry“

In Ihrem Buch „Die verkaufte Kindheit“* zeigt Susanne Gaschke die Zusammenhänge zwischen Ihrem Gegenstand (Untertitel: „Wie Kinderwünsche vermarktet werden und was wir dagegen tun können“) und dem weitverbreiteten Blick von Kinderbuchverlagen und –funkredakteuren auf die ihnen anvertraute Zielgruppe auf: „Die Werber und Kinderkulturschaffenden predigen Empowerment, aber sie praktizieren Kinderverachtung.“ Sie beklagt, dass Erwachsene (hartherzige Stiefeltern, gestrenge Lehrer und Gouvernanten, olle Hexen …) gerne als Feindbilder dargestellt werden, gegen die sich unschicklich zu verhalten schon beinahe alternativlos ist (um ein geflügeltes „Mutti“-Wort zu gebrauchen). Zu diesen Schurkenfiguren gesellen sich deren klassische Vorbilder in Märchen und Sagen sowie die etwas harmlosere, aber letztlich ebenso wenig hilfreiche neuzeitlich-bürgerliche Variante: verständnislose Eltern, Verwandte und Pädagogen, die ein überkommenes Gesellschaftsbild verkörpern und nicht an magische Wesen und Dinge glauben.
Die Werke des verstorben Kinderbuchautors Roald Dahl – der in seinen beiden vorangegangenen Schaffensphasen als weltberühmter Schriftsteller für Erwachsene geschrieben hatte – wird in unseren Tagen nicht nur im Sinne der Wokeness und der Genderfragen verfälscht (was schlimm genug ist), sie werden sogar in einer inhaltlich entstellenden Weise umgeschrieben, um weniger drastisch zu sein, gleichsam in einem vorauseilenden Reflex, der erwartbare Zensurbemühungen vorwegnehmen möchte.
Inwiefern ist das kinderverachtend? Aus zwei Gründen.
Erstens unterstellt es der jungen Leserschaft die Unfähigkeit (und perspektivisch auch den Unwillen) die eigenen Wertvorstellungen an der Lektüre zu schärfen. (Klar: die Kinder sind mal wieder „zu doof“.)
Zweitens will es die Erziehungsberechtigten von der Verlegenheit entbinden, das (Vor-)Gelesene mit ihren Kindern besprechen zu müssen. Der begleitende Dialog mit dem eigenen Nachwuchs wird als Zumutung angenommen, als eine Horrorvorstellung. Die Eltern, die das Kulturprogramm für ihr Kind danach auswählen, wie woke und tolerant es äußerlich tut, ziehen so mancherlei groß, aber gewiss kein Individuum.
In unser heutiges Kinderverständnis passt es nicht mehr hinein, kulturelle Diskussionen zu führen (- und wie glücklich haben mich solche Gespräche in meiner Kindheit stets gemacht, da ich mich dann ausnahmsweise gehört und ernstgenommen fühlte!). Schließlich wurde die besagte Generation „mit der Maus in der Hand geboren“ (so der international operierende Marketing-Guru Martin Lindstrom), ist also mit ihrem Medium am liebsten allein. „Solche Zuschreibungen sollen die Erwachsenen gleichermaßen beruhigen (die Kids kommen schon zurecht) wie auch in Ehrfurcht versetzen (die Tweens  verstehen viel mehr von den neuen Medien als wir). Damit wird das bisher gültige Kinderbild auf den Kopf gestellt: Die Neuzeit hatte, im Gegensatz zum Mittelalter, die Kinder nicht mehr als kleine Erwachsene gesehen, sondern als noch unfertige Menschen, in denen zwar alle Möglichkeiten des Erwachsenen schon angelegt waren, sich aber erst entfalten mussten. Dafür bedurften die Kinder des besonderen Schutzes, der Pflege und Erziehung. Nun wird Kindheit wieder umgedeutet: Die Kinder seien die eigentliche Avantgarde des technischen Fortschritts, sagen die interessierten Sachverständigen. Wer tatsächlich mit Neun- oder Elfjährigen zu tun hat, weiß natürlich, dass das Unfug ist …“
Das so vermittelte Bild „schmeichelt den Kindern vordergründig, indem es ihr Technikverständnis und ihre Coolness preist, aber eigentlich traut es ihnen nicht zu, dass sie erwachsen werden wollen. (…) Sie sollten sich die Lektüre von ‚Pokémon‘- oder ‚Polly Pocket‘-Heften durchaus einmal gönnen. Es ist unglaublich, wie grammatikfrei, unoriginell, langweilig und stereotyp die meisten Kinderbücher geschrieben sind.“

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* Pantheon Verlag, München 2011

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