Die schönsten Comics, die ich kenne (33): „acht, neun, zehn“

Christoph Bachmann wird das zehnte Schuljahr wiederholen müssen. Er verbringt die langsam zuendegehenden Sommerferien allein mit seiner Mutter, die Tage verstreichen ereignislos. Im Blumenladen trifft er die ein Jahr jüngere Miriam, mit der er bald in die selbe Klasse gehen wird. Ihr heiteres Wesen und ihre Bereitschaft, ihm ihre Zuneigung zu zeigen, sind das Beste, was dem schwermütigen Außenseiter passieren kann. Aber Christoph hat sich schon mehr mit dem Alleinsein arrangiert, als ihm selber bewusst war …

Auf den ersten Blick ist Arne Bellstorfs bei Reprodukt als Comic-Album erschienene Diplomarbeit so unscheinbar wie ihr Protagonist. Bei näherer Betrachtung jedoch verfügt „acht, neun, zehn“ über eine ganze Reihe von Vorzügen, die rar sind in der Nische zeitgenössischer deutscher Graphic-Novels. Bellstorf hat in Hamburg Illustration studiert, ist aber als Zeichner erkennbar von den drei großen Vertretern der amerikanischen Ligne Claire beeinflusst (Ware / Clowes / Burns). Auch Milieu und Naturell ihrer Figuren hat er übernommen: den (jungen) phantasie- und perspektivlosen Melancholiker der Vorstadt, das behäbige Individuum am Ende einer 70jährigen Phase von Frieden und Wohlstand, dessen Lebensgefühl es eher langweilt und unterfordert als dankbar sein und zur Ruhe kommen lässt. Schon 2005 war abzusehen, dass sich diese Ära auf ihre Auflösung zubewegt, inzwischen sind wir alle miteinander in dieses Stadium eingetreten.
Doch solcherlei Sozio-Hintersinn liegt dem Künstler ohnehin angenehm fern. Auch so  entfaltet „acht, neun, zehn“ einen Sog, der etwa bei Chris Ware (Bellstorfs offensichtlichstem stilistischen Vorbild) niemals aufkommt. Arne Bellstorf ist ein viel besserer Erzähler, in dieser Disziplin am ehesten mit Charles Burns vergleichbar, ohne dessen alptraumhafte Dimension und dessen metaphorischen Aufwand.
Für den tumben Teenager Christoph geschieht all das Missliche im Wachzustand. Dass er ohne Vater aufwächst und dass seine Mutter ihn ganz beiläufig und geflissentlich ignoriert, würde in jedem anderen Medium – und vermutlich auch in anderen Comics – mindestens deutlich herausgestellt werden, Mutters Verhalten würde uns mit Psychogrammen erklärt, eine Katastrophe (schlimmer als die Trennung der Eltern) würde uns vorsichtshalber aufgezeigt etc.
Dieser wundervolle Comic erspart uns solch betreutes Lesen (schließlich ist an Christophs Situation nichts Unnormales) und verdichtet seinen Stoff auf eine biographische Essenz, auf die wir uns alle verständigen können. Etwa auf die große, ewig unbeantwortete Frage: warum sind die großen Ferien, auf die wir uns doch monatelang so sehnsüchtig gefreut haben, so zäh und schal, wenn sie endlich gekommen sind?

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