Die wiedergefundene Textstelle: „Die Angler an der Seine“

Die Relevanz eines Textes macht sich nicht zwingend an Inhalten fest, die den Bildern der Vergangenheit täuschend ähnlich sehen. Wer einem Text viele Jahre nach seiner Entstehung aus diesem Grund besondere Aktualität bescheinigt, tut ihm keinen Gefallen und erweckt eher den Verdacht, es könnte sich um eine oberflächliche Qualität handeln.
Die folgende Passage aus dem Essay „Die Angler an der Seine“ von Stefan Zweig – entstanden im Zweiten Weltkrieg – hat nichtsdestoweniger den Charme, dass man in unseren Tagen ihren Weitblick nicht belegen oder besonders hervorheben muss. Und wo Zweigs Text provoziert, ist er geradezu aufreizend.

Wir leben in einer mindestens so dramatischen Zeit wie jener der Französischen Revolution oder der Reformation. Auch für uns ist jede Woche, jeder Tag angefüllt mit historischen Begebnissen. (…) Maßlos wird uns die Jugend späterer Geschlechter darum beneiden, Zeuge und Teilnehmer dieser größten Welterschütterung gewesen zu sein.
Aber nehmen wir Zeitgenossen wirklich vollen und ständigen Anteil an den Geschehnissen? Oder vielmehr: haben wir die Kraft, steht uns genug teilnehmendes Gefühl zu Gebot, um Tag für Tag, Stunde für Stunde mit aufgetaner Seele allen diesen sich überstürzenden Geschehnissen zu folgen?
Wenn wir uns ehrlich fragen, müssen wir feststellen, daß wir alle einer solchen ständigen Hochspannung nicht gewachsen sind und wir nur ab und zu einen bestürzten und verzweifelten Blick auf die Geschehnisse wenden. Immer leben von den Millionen und Abermillionen Zeitgenossen die meisten keineswegs die Geschichte mit, sondern nur ihr eigenes Leben. Beobachten wir uns selbst, so müssen wir bekennen, daß in diesem Jahr 1940, wo jede Stunde unansehbares Grauen schafft, wo Schiffe sinken, Bomben wehrlose Kinder zerschmettern, wo Menschen zu Tausenden gejagt werden und Reiche stürzen und jedes Recht, jedes Gebot humaner Sitte verletzt wird, die Theater und Vergnügungsstätten, die Strandplätze, die Straßen ebenso überfüllt sind mit beschäftigten oder unbeschäftigten Menschen wie in einer friedlichen, einer „nichthistorischen“ Zeit, und dies nicht nur in den neutralen Ländern, sondern sogar in den kriegführenden. Mitten im Außerordentlichen geht das Tägliche unbekümmert weiter, und nichts machte mir diese – erst unverständliche – Gleichzeitigkeit deutlicher als ein Flugzeugbild in einer Zeitung, das mit seiner überlegenen Optik zeigt, wie neben einem mörderischen Sturm auf die Schützengräben ein Bauer im Nachbarfeld geruhig sein Pferd an dem Pflug führte, (…) [nicht] hinüberblickend zu dem Kampf (…).
Diese Feststellung scheint zunächst für uns alle beschämend. Sie scheint der Mehrzahl der Menschen die Fähigkeit abzusprechen, wirklichen Anteil an ihrer Zeit zu nehmen, und ihr Grauen, ihre Leiden in der innersten Seele mitzufühlen. Aber solch eine Beschuldigung wäre ungerecht. Die ungeheure Mehrzahl der Menschen hat die redlichste Absicht, an jedem außerordentlichen Geschehen starken Anteil zu nehmen, sie ist beseelt von dem Willen, ja sogar dem Wunsch, sich erschüttern zu lassen. Aber wir alle unterliegen gleichzeitig einem höheren Gesetz der Natur, die in weiser Ökonomie die Fähigkeit unserer Anteilnahme begrenzt. Starke kontinuierliche Erregungen erzeugen unweigerlich steigende Ermüdung, übermäßige Spannung, allzulang fortgesetzt, schlägt um in eine Art Lähmung. Dies erkannten schon vor zweitausend Jahren die griechischen Dramatiker als Gesetz der Tragödie, Sophokles wie Aeschylos wußten, warum sie die Dauer ihrer Dramen auf zwei, höchstens drei Stunden begrenzten. Denn steigert sich das Tragische ohne Maß, so vermindert es eher die Fähigkeit, uns zu erschüttern statt sie zu steigern. Wir alle fühlen diese verhängnisvolle Proportion: je länger das Weltdrama vor unseren Blicken dauert, je grauenhafter seine Szenen werden, je aufregender seine Episoden, umso mehr läßt unsere Fähigkeit des innerlichen Miterlebens nach.

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