Nit möglich: Kritisches zu „Hamilton“

betr.: „Hamilton“ / „Broadway Baby“, die „Musikstunde“ auf SWR2 zum Thema Musical

Das Hip-Hop-Musical „Hamilton“ ist ein Phänomen – sowohl am Broadway (wo es seit Januar 2015  gespielt wird) als auch in der fachtheoretischen Muscial-Bubble. Es ist mit 11 Tony Awards ausgezeichnet worden und „war für satte 16 Preise nominiert, mehr als jede andere Broadway-Produktion jemals erhalten hat“ (Hellotickets). Mit seiner PoC-Besetzung und einem Stilwillen, der einige der üblichen kommerziellen Selbstbeschränkungen des Genres missachtet, enthebt es sich aller Kritik (und damit wiederum restlos meiner persönlichen Neugier). Dass die Laufzeit der Show in Hamburg  so kurz geraten ist (sie endet am 15. Oktober nach etwa einem Jahr), ist für niemanden eine Überraschung. Die Kalkulation der Veranstalter ging auf andere Weise auf: über die Kühnheit der Produktion ist viel geschrieben worden, und alle Vorberichte und Kritiken waren voll des Lobes oder doch zumindest der uneingeschränkten Hochachtung – anders als beim anspruchslosen Musical-Publikum, das die Aspekte solcher Huldigungen nicht juckt (die Ambition der Übersetzung, die Singularität der Produktion im deutschen Unterhaltungsangebot, die Tugend der Erzählung „nach einer wahren Begebenheit“ …).

Bis heute ist mir nur ein einziger Beitrag begegnet, der „Hamilton“ als unterhaltendes Kunstwerk wirklich ernstgenommen hat. Er kam von Nick-Martin Sternitzke in seiner fünfteiligen Reihe „Broadway Baby“ innerhalb der SWR2 „Musikstunde“, in der die Geschichte des Musicals unter einigen besonderen Blickwinkeln beleuchtet wurde, etwa unter dem der deutschen Musical-Kultur. Zu „Hamilton“ sagt er: „Die Besetzung dieses Musicals ist besonders: Die historischen Figuren sind bis auf eine Ausnahme mit nicht-weißen Darstellern besetzt. Das ist eine überfällige Idee, denn das Theater ist ja immer nur eine Behauptung und keine naturalistische Dokumentation. So sieht das Publikum eine diverse Besetzung, bekommt Musik, die absolut hip ist, und eine mitreißende Geschichte. – Nur ist die Gründungsgeschichte der USA aber faktisch auch eine Geschichte über Sklaverei und den Genozid an den Native Americans. Darüber erzählt ‚Hamilton‘ nicht wirklich viel. Nur eben, dass die Figuren alle Teil dieser Geschichte sein wollen – solchen Phrasen tauchen oft in den Songtexten auf. Und da kann man schon fragen: Warum will man Teil dieser Geschichte sein, die doch eigentlich so schrecklich ist? Warum will man nichts verändern an den herrschenden Verhältnissen, sondern sich einfach einfügen und vielleicht einen besseren Platz im System erobern? Von solchen Ideen hätte ‚Hamilton‘ ja auch erzählen und die Geschichte aus einer anderen Perspektive schildern können. Tut es aber nicht. Stattdessen wird weiße – blutige – Geschichte eben divers erzählt. Und die Musik malt das gefällig aus und Kritik und Publikum feiern das Musical.“
Auch die musikalische Qualität hat den Kulturjournalisten nicht überzeugt. Im „Song der Stunde“ – in der deutschen Übersetzung heißt sie „Schon bald“ – erblickt er „die Kriegsandrohung als läppische Elton-John-Beatles-Nummer. Man braucht nicht viel Fantasie, um den König gegen irgendeinen Autokraten der Gegenwart auszutauschen.“
Und genau das ist es, was man in puncto Relevanz als wohlfeil einordnen muss.

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Die fünfteilige SWR2-„Musikstunde“ zum Thema ist noch für einige Zeit in der ARD Audiothek nachzuhören. Auf der SWR-Homepage werden die Sendemanuskripte zum Download bereitgehalten.

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