Mein Leben am Rande der Gesellschaft

Volk und Minister sind mir wie Geschwister
im Gegensatz zu meinem Bruder  …          Sebastian Krämer

Für meinen großen Bruder mit seinen drei Jahren Altersvorsprung war ich zu klein und zu unreif, um einen brauchbaren Spielkameraden abzugeben – besonders nachdem sich mit dem Nachfolgen unserer kleinen Schwestern – Zwillinge, anderthalb Jahre jünger als ich – diesbezüglich eine Entlastung eingestellt hatte und ich mich insgesamt zu einem etwas gebrechlichen Stubenhocker entwickelte. In der wenigen Zeit, die ich bewusst mit ihm verbracht habe – zumeist vor dem Fernseher oder Comics lesend – hat er mich mit seinem gesellschaftlichen Scharfblick und seinem komischen Talent entzückt, das dem meinen weit überlegen war. Außerdem konnte er sein hübsches Gesicht zu effektvollen JerryLewis-Grimassen verziehen, ohne dessen Aufwand treiben zu müssen. Er gab mir wichtige Impulse, als er mir Jahre später seine Marvel-Comics überließ, für die er sich inzwischen zu reif fühlte (das tue ich bekanntlich bis heute nicht). Auch unser Popmusik-Geschmack hat sich unabhängig voneinander ganz ähnlich entwickelt.
In den folgenden Jahrzehnten entfernten wir uns geographisch und persönlich weiter und weiter voneinander. Ich hatte das Gefühl, dass wir uns dennoch recht gut gelten ließen, auch weil ich mich so gern daran erinnerte wie wir gemeinsam über „Väter der Klamotte“ gelacht haben oder er mir „Der Höllentrip bei Feinkost Zipp“ nacherzählte (zum Schreien!).
Aber da habe ich mir etwas vorgemacht.
Einerseits war ich – zugegeben – wenig inspiriert von seinem Lebensweg als früh verrenteter Berufssoldat und als Vater – der anscheinend ganz ähnlich vorging wie der unsrige, den er so gern kritisiert hatte. Andererseits war und ist mein Bruder der Meinung, dass ich ein Taugenichts sei, ein Faulenzer, der sich so durchmogelt, seinen Lebensunterhalt mit kleinen Schnorrereien verdient und damit, sich dem Staat auf die Tasche zu legen. Wie kommt er zu diesem schwerwiegenden Verdacht?
Ganz einfach! Wie er mir offen erklärte, misstraut er allen Lebensentwürfen, die außerhalb seines bürgerlichen Blickfeldes liegen. Ein alleinstehender Künstler und freier Medienschaffender, der in der Innenstadt wohnt – da kann was nicht stimmen. Als die Bundesregierung im Corona-Lockdown Theaterleute, Musiker und Prostituierte zu einer übelriechenden Randgruppe zusammenfasste, dürfte das seine Zustimmung gefunden haben.

Bei W. Somerset Maugham fand ich eine hübsche Zusammenfassung unserer betrüblichen Lage. In „Fata Morgana“ erklärt uns der Ich-Erzähler ein glanzloses Berufsbild wie es sich in den fernöstlichen Hafenstädten der Jahrhundertwende abgespielt hat: „Die tide-waiters sind beim chinesischen Zoll angestellt, und es ist ihre Aufgabe, den Schiffen und Dschunken in den verschiedenen Handelshäfen entgegenzufahren, an Bord mit der Flut einzulaufen und das Löschen der Ladung zu beaufsichtigen. Ich glaube, vor allem sollen sie den Opiumschmuggel unterbinden. Meistens sind es pensionierte Matrosen aus der Royal Navy und Seeoffiziere a. D. Ich habe sie an vielen Anlegestellen auf dem Yang-tse an Bord kommen sehen. Mit dem Steuermann und dem Maschinisten stehen sie auf du und du, aber das Verhältnis zum Kapitän ist ein bißchen gespannt. Sie lernen fließender Chinesisch zu sprechen als die meisten Europäer, und oftmals heiraten sie eine Chinesin.“
Mein überaus bescheidener Wohlstand irritiert meinen Bruder auf die gleiche Weise wie der des seltsamen Grosely den Erzähler, als sich beide nach langer Zeit wiedertreffen: „Er hatte Geld gemacht, ich weiß nicht wieviel, aber aus der Art, wie er darüber redete, schloß ich auf etwas zwischen fünfzehn- und zwanzigtausend Pfund, und für einen tide-waiter war das ein Vermögen. Auf ehrliche Weise konnte er nicht dazu gekommen sein“, vermutet der Erzähler – „obgleich ich nichts Genaues über seinen Beruf weiß“.

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