Ästhetik am Mikrofon

betr.: Sprechen am Mikrofon / Lesen vom Blatt

Das Wort „Ästhetik“ geht auf das griechische Wort für Wahrnehmung zurück und damit auf die Verarbeitung der Eindrücke, die unsere Sinne auffangen. Das ist ein alltäglicher Prozess; wir sind ständig dabei, Sinnesdaten auszuwerten, einzuordnen und begrifflich zu fassen. Wir tun das so unbewusst und natürlich wie wir atmen. Auch wenn unsere Sinne eigeschränkt sind und weniger Daten liefern können – wenn wir kurzsichtig sind, schwerhörig oder bei schlechter Sicht autofahren -, sind wir doch ständig damit beschäftigt. Sogar im Schlaf kann es passieren – etwa wenn wir ein Geräusch in unseren Traum einbauen, ehe wir davon geweckt werden und es als äußeren Einfluss erkennen.

Bei der Texterfassung und Textauffassung, die jeder hörbaren Äußerung am Mikrofon vorangehen muss, geschieht außerdem das Umgekehrte: das Umsetzen von Begriffen in Sinnesreize.
Wer privat und zum eigenen Vergnügen einen Text liest, verarbeitet ganz selbstverständlich die schriftlichen Informationen, setzt sie in Bilder und Gefühle um („Kopfkino“) und bewertet das alles („Subtext“): wir klassifizieren unsere Eindrücke als groß oder klein, gut oder schlecht, angenehm und harmonisch oder irritierend und unbehaglich. Ein Beispiel: die Farbe Grün gewinnt ihre Bedeutung aus dem Gegenstand, der sie trägt: ist es eine grüne Landschaft, ist es grünes Blut, eine grüne Banane, „grünes Licht“ oder ein „grüner Junge“, worüber wir reden? Das Schriftbild sagt uns darüber nichts. Selbst der Satz, in dem das Adjektiv steht, kann uns noch im Unklaren lassen. Erst der Sinnzusammenhang der den Satz umgebenden Textpassage gibt uns die Möglichkeit, diese Bewertung wirklich vorzunehmen.
Viel spricht dafür, dass Menschen, die zu dieser Umsetzung keine Neigung haben, letztlich auch keine Freude am Lesen entwickeln werden – und selbstverständlich sind auch ihre Ausdrucksmöglichkeiten am Mikrofon entsprechend limitiert.

Wer professionell etwas vorzulesen hat, sollte so routiniert im Umgang mit Leseverständnis, Mikrofon und Studiosituation sein, dass er sich auf den Text in der gleichen Weise konzentrieren kann wie als privater Leser. Wer abgelenkt wird – etwa dadurch, dass er über eine Betonung nachdenkt oder sich Sorgen macht, es könnte ihm ein Fehler unterlaufen – steigt augenblicklich aus der Interpretation des Textes aus und verliert den Zuhörer.

Ästhetik wird gern mit „die Lehre vom Schönen“ übersetzt („Hegels Ästhetik“). Im Alltag neigen wir sogar dazu, das Adjektiv „ästhetisch“ mit „schön“, „wohlgefällig“ gleichzusetzen – etwa, wenn wir einen Anblick, der uns missfällt als unästhetisch bezeichnen. Das verkürzt den philosophischen Terminus, der zwischen der formalen, der inhaltlichen und der Gehaltsästhetik unterscheidet. (Wer möchte, kann darüber streiten, wie sehr wir uns dieser Definition im Sprachgebrauch verpflichtet fühlen sollten …)

Beim lauten Vorlesen ist es viel einfacher: ein schöner Vortrag ist einer, der dem Inhalt des Textes wohlverstanden möglichst gerecht wird, der also neben diesem auch die Textgattung und das Medium bedenkt. Natürlich sollte er auch auf Grundtugenden wie Aussprache, technische Sauberkeit der Aufnahme etc. Rücksicht nehmen.
Dann beginnt der geschmackliche Aspekt seiner Wirkung: Wie gut gefällt mir der Klang der Stimme? Wie wichtig ist es für mich, dass mir ein Krimi von einem prominenten TV-Kommissar vorgelesen wird? etc.

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