Heul doch!

In einem Artikel über das beginnende Kafka-Jubiläumsjahr lese ich, dass Franz Kafkas schriftstellerisch übermitteltes Selbstbild etwas Viehisches hat, dass er in den Tieren einen Teil seiner selbst erkannt habe. „Tieren traut man keine Moral zu, keine Schamgefühle, gar nichts von höherem Wert. Die Laute, die Tiere herausbringen, werden von Menschen nicht verstanden. Tiere gelten als arg beschränkt, sie scheinen keine sprachlichen Ausdrucksformen zu kennen. Domestizierte Tiere dürfen sich zwar in der Umgebung von Menschen aufhalten, sind aber keineswegs gleichberechtigt. Sie leben bei Menschen, aber nicht unter ihnen.“ Kafka habe seine Jugend so empfunden: „Er existierte in einem Kosmos fern der Eltern, unbeeindruckt von ihren Sorgen und Hoffnungen. Er lebte nicht mit ihnen, er lebte unter ihnen.“ Dieser Vergleich – wie wir unsere Haustiere betrachten, so ähnlich tun wir das auch mit unseren Kindern – ist so kühn wie allgemeingültig. Er betrifft nicht nur die Familie Kafka, sondern beschreibt einen undramatischen (und gerade deshalb so irritierenden) Normalzustand.
Die Erfahrung von Misshandlung wäre etwas Dramatisches, ein Aufwachsen in Verwahrlosung oder der Verlust von Heim und Familie durch einen Krieg oder einen Hausbrand. Doch selbst als jemand, der – wie die meisten von uns – solche Traumata nicht erleiden musste, der einfach eine normale Kindheit hatte, finde ich den Kafka-Vergleich treffend und allgemeingültig. Daran ändert alles Getue der Erwachsenen ums eigene Kind, ums Kinderkriegen an sich, um das hochemotionale Thema der Abtreibung nichts, ebensowenig die Vermenschlichung, die wir andererseits unseren Haustieren überziehen – früher hauptsächlich den Hunden („Der versteht jedes Wort!“), inzwischen haben die Katzen ordentlich aufgeholt („Ich bin bei meiner Katze angestellt.“).
Kafka hat‘s mal wieder erfasst, Kafka ist mal wieder überall!

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