Poe und wie er die Welt sah

betr.: 215. Geburtstag von Edgar Allan Poe

Wer den exotischen Wunsch verspürt, sich ein Bild von den Unbequemlichkeiten zu machen, die den ganz gewöhnlichen Alltag unserer Urahnen bestimmten (sogar den der wenigen Wohlhabenden unter ihnen), dem hilft ein Blick auf ihren Eskapismus, auf das Entertainment, dem sich diese Leute hingaben, wenn es ihre Zeit erlaubte. In der Kunst, die von diesem Alltag ablenken sollte, werden Geschütze aufgefahren, die das ganz gewöhnliche Grauen erahnen lassen, mit dem sie konkurrierte. Die Theaterstücke William Shakespeares sind ja vor allem deshalb so blutrünstig, weil die Zuschauer auf dem Weg zum Theater an Freakshows, Bärenhatzen, Hinrichtungen vorbeispazierten, von all dem Dreck und Elend einmal abgesehen, das das Straßenbild sonst bestimmte.
Edgar Allen Poe lebte in vergleichsweise zivilisierten Zeiten, gut 200 Jahre später an der amerikanischen Ostküste. Doch selbst in dieser Umgebung würden die Geschöpfe unserer Handy-Wellness-Work-Life-Balance-Instagram-Fuzzi-Gesellschaft keine 30 Minuten durchhalten, ohne gleich anschließend ein Burn-Out für sich geltend zu machen und sich nach Möglichkeit in ein Sabbatical zu verabschieden. Selbst die drastische archaische Verhältnisse heraufbeschwörenden Erzeugnisse unserer modernen Serienkultur – etwa „Game Of Thrones“ – kommen vergleichsweise säuberlich daher. Wer einen flüchtigen Eindruck von den tatsächlichen hygienischen Aspekten der Prä-Deodorant-Ära erhaschen will, ist bei Monty Pythons „Ritter der Kokosnuss“ besser aufgehoben. Oder er lese Patrick Süskind, der sich in „Das Parfum“ viele Seiten Zeit nimmt, die haarsträubenden Verhältnisse klarzustellen, unter denen der folgende Roman ablaufen wird.

Dass wir einen Autor wie Edgar Allan Poe heute mit Vergnügen lesen können, ist nur möglich, weil wir uns unter einer Stadt, einem Raum, einem menschlichen Körper etwas vorstellen, was unseren Erfahrungen und Gewohnheiten entspricht. Und das ist gut so, denn jede Erzählung braucht eine vertraute emotionale Grundierung des lesenden Gemüts.  

Na also: einer (neuerlichen) Lektüre von Edgar Allan Poe steht nichts im Wege! Dabei wollen wir nicht vergessen, dass die Einordnung des Autors als Meister der Gruselgeschichte eine Verengung darstellt. Sieht man von seiner journalistischen Tätigkeit, seiner Arbeit als Sachbuch- und Theaterautor ab, der außerdem Gedichte, Essays und eine Vielzahl von Briefen geschrieben hat, bietet Poes erzählerisches Werk ein Spektrum, in dem sein Übersetzer Arno Schmidt sich über eine Vielzahl von „Eigenwilligkeiten und Kühnheiten“ freuen konnte.
Nach Poes eigenen Kategorien sind die Stories seiner hauptsächlichen Schaffensphase Grotesken und Arabesken – grotesk nannte er ein Werk, wenn ein burleskes oder satirisches Moment vorherrschte, arabesk dagegen, wenn es ganz von der Imagination bestimmt war. Und natürlich: Detektivgeschichten.
Seine deutschen Verleger im 20. Jahrhundert nahmen – wenn sie sich nicht ohnehin auf die „Hits“ beschränkten – zusätzlich eine thematische Gliederung vor, als „Ordnungshilfe“. So kamen neue Rubriken zustande: „Phantastische Fahrten“, „Faszination des Bösen“, „Mesmerismus und Hypnose“ oder „Der Kosmos und die Letzten Dinge“, weiterhin die erwähnten Kriminalgeschichten, die Poe nicht als erster betrieben, jedoch in ihrer heutigen Form ausdefiniert und der er den ersten richtigen Ermittler erfunden hat.
In der einen oder anderen mehrbändigen Ausgabe wird noch ein Aspekt gewürdigt, der es Deutschland naturgemäß schwer hat. Texte wie „Froschhüpfer“ („Hop Frog“) oder „Der Engel des Wunderlichen“ („The Angel Of The Odd“) werden unter „humoristische Erzählungen“ zusammengefasst.

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