Erfassung von Inhalten in Lesung und Liedgesang

betr.: Mikrofonarbeit

Wer musikalisch ist, der liest auch schön. So verkürzt diese oft strapazierte Weisheit ist, so zutreffend ist sie.
Wir wollen zunächst die offensichtlichen Unterschiede zwischen der Textinterpretation beim Liedgesang und der beim literarischen Text beiseiteräumen, um uns dann den vielen Gemeinsamkeiten zuzuwenden.

Die Unterschiede bauen aufeinander auf bzw. ergeben sich auseinander.

1. Die Materialmenge / Werklänge ist im literarischen Vortrag erheblich größer.

2. Der gesangliche Vortrag lässt sich für jedes Wort viel mehr Zeit und pausiert überdies während die Begleitung weiterspielt.

3. Praktisch jede gesungene Zeile wird neben der inhaltlichen Analyse intensiv geprobt.

4. Im Gesang ist die Melodie präzise schriftlich festgelegt, auch das Tempo wird vorgezeichnet.

Da hören die Unterschiede auch schon allmählich auf.
Das Wichtigste ist etwas, das für beide Vortragskünste gilt:

Es steht alles im Text, was der Interpret braucht!

Der Bariton Christian Gerhaher gibt bei der Schulung von Meisterklassen Techniken und Tugenden an junge Sänger weiter, die ebenso für den Leser am Mikrofon wichtig sind.*
Gleich an den ersten gesungenen Wörtern von Heinrich Heines Gedicht „Leise zieht durch mein Gemüt“, vertont von Edvard Grieg, kritisiert er, das „zieht“ sei zu kurz, und auf das „leise“ sei ein zu starker Akzent gelegt worden. Der Lehrer weiß auch, warum die Sopranistin das getan hat: die hörbare Freude an diesem Akzent regt auch das Publikum dazu an, sich hinreißen zu lassen. Hier wurde ein verzeihlich scheinender Trick angewandt, der zwar funktioniert, aber dessen Durchschaubarkeit sehr rasch ermüdend und entfremdend auf das Publikum wirkt. Machen wir uns bewusst, um wieviel verheerender sich ein solcher Effekt erst bei einem gelesenen Text auswirken muss, der um ein Tausendfaches länger ist.

Gerhaher kommt später auch auf den übergeordneten Grund zu sprechen, der solche Tricks zu Fehlern macht, die unbedingt zu vermeiden sind. Mit einer solchen Anschubhilfe für die Begeisterung des Publikums stellt sich der Interpret zu sehr in den Vordergrund. Gehaher redet sogar vom „Singen als Sprechen“, wenn er einfordert, „dass der Sänger frontal zum Publikum steht“ und nicht etwa umhergeht. „In eine Richtung“, so dass jeder Zuhörer meint, diese Worte zielten just auf ihn, obwohl der Sänger den ganzen Saal adressiert. Eine überflüssige Akzentuierung des Einsatzes der Stimme sei so etwas wie ein Schritt nach vorn, ein Aufdrängen von Nähe. Ein Liedsänger variiere Tonfälle, markiere Haltungen und skizziere Rollen, exponiere sich aber nicht als Person. „Wenn man anfängt, alles zu illustrieren wird es sehr schnell peinlich.“ Das ist das große Berufsrisiko – im Gesang wie beim literarischen Lesen von Blatt.
Und hier wie dort kann der Text in der Ich-Form stehen, was die Versuchung, sich als Vortragender zu wichtig zu nehmen, vergrößert.
Das ist auch in Griegs Heine-Lied der Fall.

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* Siehe „F.A.Z. Magazin“, März 2024

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