Sensitivity Reading – Dichtung und Wahrheit

Sensitivity Reading gibt es zweimal. Einmal so wie es sinnvoll sein könnte und wie es von den Verlagen dargestellt wird. Und ein andermal so wie es sich zuweilen tatsächlich abspielt und vom Autor als ein Akt der Zensur erlebt werden kann.
Dahinter steht die löbliche Absicht, im Rahmen des Lektorats zu kontrollieren, ob sich in einem Manuskript Formulierungen finden, die einzelne Lesende in ihren Gefühlen bzw. in ihrer Selbstwahrnehmung verletzen könnten. Der Autor soll auf diese Weise davor bewahrt werden, ungewollt und unbewusst den Eindruck zu erwecken, rassistisch, frauenfeindlich oder sonstwie angreifbaren Geistes zu sein. (Und der Herausgeber davor, sich mit kritischen Reaktionen herumplagen zu müssen.)

In einer Gegendarstellung, die ein Verlag auf Anfrage des BR abgab, hört sich das Verfahren (hier in Auszügen) so an: „Ein Sensitivity Reading wie es im Fall von Sören Siegs Buch ‚Oh, wie schön ist Afrika‘ stattgefunden hat, ist ein übliches Verfahren. Der Autor war von Anfang an in den Prozess einbezogen. Die Sensitivity Readerin wurde in vollstem Einvernehmen beauftragt, den Text zu prüfen. Das Ergebnis ihrer Lektüre wurde besprochen und dabei diskutiert, ob und wo man den Empfehlungen folgt. Ein Stellen vor vollendete Tatsachen hat es nicht gegeben. Sensitivity Reading ist für uns eine Form der Beratung. Ob wir den Empfehlungen folgen, wo wir sie weiterentwickeln oder ggf. auch verwerfen, ergibt sich immer im Gespräch zwischen Lektorat und Autor*innen. Letztere haben die entscheidende Stimme in diesem Prozess, so auch Sören Sieg.“
Der genannte Autor, Sohn des verstorbenen Satirikers Wolfgang Sieg und im Hauptberuf ein international erfolgreicher Komponist, erlebte das anders. Er erklärte in einem Interview mit dem BR, künftig gar nicht mehr über einen Verlag publizieren zu wollen. Er hatte zuvor ein Dutzend gut verkaufter Bücher geschrieben, einige davon unter humorvoll-provozierenden Titeln wie „Ich bin eine Dame, Sie Arschloch“.

Dieser Beitrag wurde unter Gesellschaft, Kabarett und Comedy, Literatur, Medienkunde, Medienphilosophie abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert