Rankings sind eine Pest unserer Zeit. Kai Luehrs-Kaiser drückt sich auf radio 3 kultivierter aus: Die Sucht, auf irgendeinem Gebiet nach den jeweils Besten zu suchen und sie der Welt mitzuteilen, die Suche nach Rekordhaltern sei zumindest in der Klassischen Musik deplatziert. Er kommt zum Fazit: „Derlei Auspreisungen sagen über unsere Gegenwart mehr aus als über die ausgepreisten Künstler.“ Obwohl hier nicht die im Sport üblichen Medaillen vergeben werden können, gibt es ein paar Meisterinnen und Meister ihres Fachs, die in ihrer eigenen Branche als absolut führend und unübertrefflich angesehen werden: „Was die Dirigenten betrifft, werden in der Gegenwart Furtwängler und Karlos Kleiber als die absolut Größten angesehen, ein Urteil, das einem unter Musikern so unausbleiblich wiederbegegnet, dass es geradezu langweilig ist. Niemand redet von Toscanini, alle immer nur von Furtwängler, alle halten sich über Karlos Kleiber auf, kaum jemand noch über Karajan“, Letzterer bekanntlich der volkstümliche Popstar der Dirigierkunst. An diesem letzten Beispiel wird bereits deutlich, wie es zu diesen Abweichungen kommt: das Marketing (und Karajan war ein König der Selbstinszenierung) ist für’s Volk sichtbar und daher wichtig, für den Kollegen ganz und gar nicht. Umgekehrt werden handwerkliche Qualitäten und die Tugend der Effizienz im Betrieb von der Fangemeinde ebenso grundsätzlich ignoriert wie sie fachlich bedeutsam sind.
Luehrs-Kaiser interessiert sich also dafür, was ihm wichtige Musiker als ihr eigenes Urteil vermitteln: „Simon Höfele, der vermutlich bedeutendste Trompeter der jüngeren Generation auf dem Feld der Klassik, bestätigte mir, was keine Überraschung war, dass Maurice André (der kleine dicke aus den 70ern) noch immer allgemein als der Dawid Oistrach der Trompete angesehen und verehrt wird. Der russische Übergeiger ist damit gleich mitenthüllt, klarer Fall eines historischen Klassenbesten. Tatsächlich habe ich noch kaum einen Geiger getroffen – einschließlich Isabelle Faust und Gideon Kremer -, die oder der sich nicht leidenschaftlich zu Dawid Oistrach bekannt hätte, er repräsentiert immer noch den Goldenen Schnitt der Violinkunst. Niemand nennt Heifetz, niemand nennt Kreisler oder auch nur Perlman oder Szigeti, einige nennen Leonid Kogan, wenige Yehudi Menuhin. Oistrach muss es sein!“ Die Namen dieses internen Kanons „leuchten über alle Paradigmenwechsel hinweg, durch alle Krisen und Kehrausbewegungen hindurch, die inzwischen die Klassische Welt doch reichlich erschüttert haben“.
Ich kenne dieses Phänomen von mir selbst nicht nur auf Gebieten, auf denen ich nur nebenbei gewirkt habe (etwa im Zeichnen, wo Wallace Wood für mich der handwerklich Beste und Vielseitigste ist), sondern auch im gewissermaßen eigenen Fach. Die Musiker / Kabarettisten, mit denen ich mich austauschen konnte, stellen auf dem Gebiet des Chansons wie des musikalischen Humors aktuell ausnahmslos Sebastian Krämer oben hin: ganz meine Meinung! Niemand redet von Tim Fischer, Max Raabe oder Bodo Wartke. Die Älteren kennen und nennen noch Georgette Dee. Die war und ist nicht nur überragend, sondern außerdem eine historische Figur auf ihrem Gebiet. Die zuletzt beiseite Genannten hätten ohne sie gar nicht erst stattgefunden, jedenfalls nicht so. Egal, ob sie sie heute überhaupt noch kennen.
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