Die wiedergefundene Textstelle: „Ein Fischerdorf“

Eskortiert von den johlenden und lachenden Jungs, galoppierte der Esel mit seiner silbrig glänzenden Fracht den Kai entlang und eine Dorfstraße hinauf, bis sie schließlich den Kiesstreifen erreichten, jene Stelle, wo das Bachwasser seine Farbe wechselte. Dort verarbeiten zwanzig Leute beiderlei Geschlechts und jeden Alters den Fisch für den Markt.
Makrelen, schön wie Feuergeätzte Silbertabletts, wurden zuerst auf einen langen Tisch gelegt, an dem so viele Frauen tätig waren wie Ellbogen Platz fanden. Jede von ihnen konnte einen Fisch mit nur zwei Messerschnitten putzen. Dann kamen die Wäscher, gebeugt über Tröge voll mit fließendem Wasser aus dem Bach, die den Fisch säuberten.
Nachdem er gewaschen war, wurde der Fisch zu einer Gruppe von Mädchen mit Messern gebracht, die jeden einzelnen auf eine Art zuschnitten, dass er geplättet aussah wie man es vom Frühstückstisch kennt. Und nach den Mädchen kamen die Männer und Jungen, die jeden Fisch gründlich mit ganzen Händen voll grobkörnigem Salz einrieben, das weißer aussah als Schnee und im Tageslicht über und über funkelte wie Diamanten. Zuletzt kamen die Packer, welche die Kunst beherrschten, nicht zu wenige und nicht zu viele Makrelen in einem Fass zu verstauen.
Ein mächtiger Baum breitete seine Äste über die Stätte. Der Schattenwurf der Blätter hatte etwas Sakrales, als wäre der Ort eine der Arbeit geweihte Kapelle. Schweigen beherrschte die Gemeinde. Die Frauen am Großen Tisch arbeiteten konzentriert und mit gebeugten Köpfen. Ihre alten Röcke waren gerafft und ließen derbe Arbeitsschuhe sehen, und ihre nackten Fesseln wirkten in den weiten Schuhen dünn wie Strohhalme.
Jenseits der Mauer, auf der ansteigenden Straße, waren die Insulaner in ihren Jerseys zu sehen. Kräftig gebaut mit langen gelben Bärten. Sie schritten langsam zwischen Gänsen und Kindern dahin. Auch sie sprachen wenig. Sie rauchten finster, ehrwürdig und still ihre kurzen Pfeifen.

Stephen Crane war Abenteurer, Kriegskorrespondent und Pionier der amerikanischen Moderne. Er wurde 1871 in Newark in New Jersey geboren. Seinen Ruhm als Schriftsteller begründeten sein Bürgerkriegsroman „Die rote Tapferkeitsmedaille“ und die Kurzgeschichte „Das offene Boot“, in der er seine Erlebnisse beim Untergang des Dampfers „Commodore“ vor der Küste Floridas verarbeitete. In seinem kurzen Leben – er starb im Alter von 28 Jahren an Tuberkulose – schrieb Crane Lyrik, Romane und Erzählungen, deren Helden die kleinen Leute sind: Obdachlose, Straßenmädchen, Fischer, Soldaten, Menschen aus den Elendsvierteln der Großstädte. Viele Rezensenten sehen in Crane daher den ersten amerikanischen Naturalisten. Die Nähe seiner Texte zur Reportage, weist aber auch schon ins 20. Jahrhundert und macht ihn zum Wegbereiter von Autoren wie Ernest Hemingway. Die „Irish Notes“, aus denen die Textpassage stammt, entstanden 1897.

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