Wohnwelten (9): Albert Speer in Haft (Nürnberg)

Bei den Nürnberger Prozessen wurde der Rüstungsminister und wichtigste Architekt des Dritten Reiches Albert Speer zu 20 Jahren Festungshaft in Spandau verurteilt. Dem Todesurteil entging er dadurch, dass er als einziger der Angeklagten Reue erkennen ließ (eine Reue, die die Nachwelt als betrügerisch entlarvte) und das wahre Ausmaß seiner Verstrickung in das Regime verschleierte.
Auf 20.000 Kassibern notierte Speer in der Zelle das, was nach seiner Entlassung als „Spandauer Tagebücher“ zum Bestseller werden sollte. Darin spinnt er die Legende vom nachdenklichen Selbstkritiker weiter.

4. Oktober 1946
Seit dem Urteilsspruch sind unsere Zellen wieder verschlossen, wir haben keine Möglichkeit mehr, miteinander zu sprechen oder uns im Gefängnishof zu erholen. Die Einsamkeit wird unerträglich. (…)

8. Oktober 1946
Ich muss mich zu intellektueller Tätigkeit zwingen. Da es nach dem Abschluß des Prozesses keine Herausforderungen dieser Art mehr gibt, bleibt mir nur engste und banalste Bereich. In konzentriere mich auf den Tisch in meiner Zelle, auf den Hocker, die Jahresringe im Eichenholz der Tür. Versuche, diese Dinge so präzise wie möglich zu erfassen und für mich zu beschreiben. Eine erste Übung in – ja, in was? Sicherlich nicht in Schriftstellerei; eine Erprobung der Registrierfähigkeit.

9. Oktober 1946
Ich befinde mich seit über einem Jahr im Gefängnis, von dem ich bisher nur das eiserne Eingangstor und den Gefängnisblock gesehen habe. Die Fassaden mit den kleinen Fenstern sind durch den Staub und den Ruß von Jahrzehnten verschmutzt. Im Hof vegetieren einige Birnbäume und zeigen, dass sich selbst hier über lange Zeiträume hinweg Leben behaupten kann. In den ersten Tagen kletterte ich oft auf meinen Stuhl und klappte die obere Hälfte des Fensters hinunter, um einen Blick in den Hof zu tun. Aber das kleine, hochliegende Fenster ist zu tief in die Gefängnismauer eingebettet. Die Scheiben sind durch graues Zelluloid ersetzt, weil man uns die Möglichkeit nehmen will, mit Glassplittern die Pulsadern aufzuschneiden. Selbst bei Sonnenschein wirkt die Zelle düster. Das Zelluloid ist verkratzt, die Umrisse draußen sind nur verschwommen wahrnehmbar. Es beginnt, kalt zu werden; trotzdem kippe ich manchmal das Fenster herunter. Die kalte Zugluft stört den wachhabenden Soldaten. Er fordert mich sofort auf, das Fenster zu schließen.

10. Oktober
Tag und Nacht stehe ich unter ständiger Beobachtung. In jede der schweren, eichenen Zellentüren ist in Augenhöhe eine quadratische Öffnung geschnitten. Das Gitter vor der Öffnung kann auf die Seite gedreht werden, wenn das Essen hineingeschoben werden soll. Abends hängt der Soldat eine Lampe an dieses Gitter, so daß ich lesen kann. Nach sieben Uhr wird sie zur Seite gedreht, die Zelle bleibt die ganze Nacht schwach erleuchtet. Seit es Robert Ley, dem Organisationsleiter der Partei, gelungen ist, sich mit dem abgetrennten Saum eines Handtuchs am Abflußrohr der Toilette zu erdrosseln, sind rigorosere Kontrollen eingeführt worden.
Eine solche Zelle kannte ich bisher nur aus amerikanischen Filmen. Nun habe ich mich fast daran gewöhnt. Ich sehe kaum noch den Schmutz auf den Wänden. Vor Jahren müssen sie einmal grün gewesen sein. Damals gab es auch elektrisches Licht an der Decke, sowie einige Einrichtungsgegenstände, von denen jetzt nur noch die ausgegipsten Löcher zu sehen sind, wo die Holzdübel saßen. Eine Pritsche mit einer strohgefüllten Matratze steht an der Längswand. Als Kopfkissen benutze ich einige Kleidungsstücke, für die Nacht habe ich vier amerikanische Wolldecken, aber keine Bettwäsche. Die Wand ist längs der Pritsche von vielen Vorgängern schmutzig-glänzend geworden. Eine Waschschüssel und ein Pappkarton mit einigen Briefen stehen auf einem wackeligen kleinen Tisch. Ich habe nichts aufzubewahren. Unter dem kleinen Fenster laufen zwei Heizungsrohre entlang; dort trockne ich die Handtücher.
Der penetrante Geruch eines amerikanischen Desinfektionsmittels verfolgt mich durch alle Lager, die ich bisher passieren mußte. In der Toilette, in der Wäsche, im Wasser, mit dem ich jeden Morgen den Fußboden aufwische, überall riecht es süßlich, scharf und medizinisch.

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