betr.: 2. Todestag von Carl Davis
Stummfilmmusik ist ein Orchideenthema, für das sich kein Schwein zuständig fühlt, eine Nische innerhalb der Nische Filmmusik, die ihrerseits in den Zeiten von Hans Zimmer als einzig wahrgenommener Alternative zu John Williams ohnehin komplett auf den Hund gekommen ist. Ein Glück, dass das der Carl Davis nicht mehr erleben muss, würde ich sagen, wenn er’s nicht doch miterlebt hätte – bis vor genau zwei Jahren.
Davis war ein Alleskönner – unter anderem auch ein toller Bearbeiter („Topsy Turvy“ nach Gilbert & Sullivan) bzw. Komponist von Tonfilm-, Dokumentarfilm- und TV-Serienmusik. Aber dem Stummfilm widmete er nun eben seine besondere Hingabe. Er versah nicht nur Klassiker wie den stummen „Ben Hur“ oder „Show People“ von King Vidor, sondern auch zahlreiche Werke von Buster Keaton nachträglich mit sinfonischen Partituren. Von Charles Chaplin übernahm Davis stillschweigend die Regel, dass Stummfilmmusik nie illustrierend sein darf wie es Soundtracks üblicherweise dürfen (nicht müssen). Sie „liegt drunter“ und ist strukturell der Salonmusik ähnlicher als dem Underscoring. Das von Erich Wolfgang Korngold im frühen Tonfilm so meisterlich gepflegte (und später von Dritten so genannte) „Mickymousing“ – zu stummen Szenen funktioniert es nicht. Jeremy Brock – heute vielleicht der beste Nachfolger von Mr. Davis auf diesem Gebiet – hält sich auch daran, und der begnadete Schweizer Meister der Archivmusik Fred Stittmatter („Väter der Klamotte“) tat es schon vor 60 Jahren.
1936 in Brooklyn geboren, begann Carl Davis seine musikalische Ausbildung mit sieben Jahren. (Etwa um diese Zeit legte Chaplin übrigens mit „Goldrausch“ seine erste nachgereichte Filmmusik für einen eigenen Klassiker vor.) Mit neun Jahren konnte der kleine Carl bereits Partituren lesen, mit 18 begleitete er den in den USA immens beliebten „Robert Shaw Chorale“ am Klavier und auf seinen Tourneen. Er wollte bald auch komponieren und studierte zwei Jahre unter Paul Nordoff am Bard College im Staate New York. Nach einem Gastspiel beim Königlich Dänischen Ballett in Kopenhagen zog es ihn nach England, das seine Wahlheimat wurde. Am Beginn seines Werkverzeichnisses steht mit „That Was The Week That Was“ eine historische Satiresendung.
Nach einer regulären Zusammenarbeit dem Regisseur Jack Gold, die dessen bekannteste Arbeiten kurioserweise ausließ, brachte Davis der Zufall mit seinem Lebensthema zusammen. Die TV-Dokumentarreihe „Hollywood: A Celebration of the American Silent Film“ kam 1980 heraus, und Davis schrieb die Musik dazu. In jenen Tagen betraute ihn die BBC mit der Neuvertonung des soeben von Kevin Brownlow rekonstruierten Monumentalschinkens „Napoleon“ von Abel Gance. Eine Reihe von Stummfilm-Rekonstruktionen und -Live-Präsentationen setzte ein, und Davis erwies sich des Segens, den ihm dieser fulminante Start mitgegeben hatte, dauerhaft als würdig und gewachsen. Er brachte es auf 60 solcher Projekte, viele davon in Zusammenarbeit mit Kevin Brownlow.
Ganz besonderes Vergnügen habe ich persönlich mit seiner Musik für Buster Keatons „Our Hospitality“ (1924 / 1984) und für den bereits erwähnten „Show People“ (1928 / 1982), in dem sich der niedergehende Stummfilm noch einmal in Hochform präsentiert und zum Abschied selbst auf die Schippe nimmt. (Beide Davis-Filmmusiken haben übrigens keine Veröffentlichung auf Tonträger erfahren, viele andere schon.)
Außerdem machte sich Carl Davis als Konzertdirigent in England und Deutschland nützlich und produzierte Alben mit Shirley Bassey, Marilyn Horne und Kiri Te Kanawa. Anlässlich des 150. Jahrestages der Gründung des „Royal Liverpool Philharmonic Orchestra“ schrieb er zusammen mit Paul McCartney das 1991 auf dem Album „Paul McCartney’s Liverpool Oratorio“ veröffentlichte Oratorium zu Ehren dieser Stadt. Von 1993 bis 2001 hatte Davis dem Orchester als künstlerischer Direktor und Dirigent der „Summer Pops Season“ vorgestanden.