Von August 1897 bis Juli 1900 arbeitete Thomas Mann an seinem Familienroman „Buddenbrooks“, und während dieser drei Jahre kamen nur drei weitere Erzählungen zustande. Deren wichtigste und interessanteste ist ohne Zweifel „Der Kleiderschrank“, Untertitel: „Eine Geschichte voller Rätsel“. „Rätselhaft“ ist denn auch der Ausdruck, den die fachliche Nachwelt immer wieder dankbar auf diesen Text anwendet, um Thomas Mann nicht in die etwas despektierliche Nähe von Hanns Heinz Ewers oder Ambrose Bierce rücken zu müssen. Nichtsdestoweniger handelt es sich hier um eine phantastische Erzählung, also eine ganz wunderbare Sache.
Geschrieben wurde „Der Kleiderschrank“ in nur wenigen Novembertagen des Jahres 1899, offensichtlich ohne lange Vorbereitung und unter dem Eindruck eines sonderbaren Erlebnisses. Thomas Mann war ein Jahr zuvor in eine neue Wohnung in Schwabing gezogen, zwei kleine Räumlichkeiten im Hause Marktstraße 3 im dritten Stock. Und wie er sie fand, wie sie aussah und was er dort erlebte, hat er in der besagten Geschichte beschrieben.
Es war ein kleiner, niedriger Raum mit brauner Diele. Seine Wände aber waren bis obenhinauf mit strohfarbenen Matten bekleidet. Das Fenster an der Rückwand rechts verhüllte in langen schlanken Falten ein weißer Musselinvorhang. Die weiße Tür zum Nebenzimmer befand sich rechter Hand. (…) Dieses Zimmer war erbärmlich kahl mit nackten weißen Wänden, von denen sich drei hellrot lackierte Rohrstühle abhoben wie Erdbeeren von Schlagsahne. Ein Kleiderschrank, eine Waschkommode nebst Spiegel. Das Bett, ein außergewöhnlich mächtiges Mahagonimöbel, stand frei in der Mitte des Raumes. (…) Er zog ein vernickeltes Etui aus der Tasche, entnahm ihm Seife und begann, sich an der Waschkommode Gesicht und Hände zu erfrischen. Zwischendurch blickte er durch die stark nach außen gewölbten Fensterscheiben tief hinab über gotige Vorstadtstraßen im Gaslicht, auf Bogenlampen und Villen. Während er seine Hände trocknete, ging er hinüber zum Kleiderschrank. Es war ein vierschrötiges, braun gebeiztes, ein wenig wackliges Ding mit einer einfältig verzierten Krönung und stand inmitten der rechten Seitenwand genau in der Nische einer zweiten weißen Tür, die in die Räumlichkeiten führen musste, zu welchen draußen an der Treppe die Haupt- und Mitteltür den Eingang bildete. „Einiges in der Welt ist gut eingerichtet“, dachte Van der Qualen. „Dieser Kleiderschrank passt in die Türnische, als wäre er dafür gemacht.“
Er öffnete. …