Wie heilsam ist „Healing Fiction“?

In einer aktuellen Sonderausgabe des „Spiegel“ zum Thema „Mental Health“* erklärt Andreas Bernard den Begriff „Healing Fiction“ unter der hilfreichen Überschrift „Der Föhn für das gefrorene Meer in uns“ (niemand soll sagen, wir wären nicht gewarnt worden!): „Die Geschichte der Literatur hat viele Genres hervorgebracht, die beim Leser benennbare Effekte auslösen sollen: Krimis sollen Spannung erzeugen, Horrorstorys Angst, Pornographie Lust. Dass die Lektüre eines Romans ausdrücklich seelische ‚Heilung‘ verspricht, ist ein neues Phänomen. Das Genre (…) kommt aus Japan und Südkorea und hat in den vergangenen Jahren zuerst den englischsprachigen Literaturmarkt erobert und nun auch den deutschen. Das erfolgreichste Buch ist zweifellos ‚Bevor der Kaffee kalt wird‘ des japanischen Schriftstellers Toshikazu Kawaguchi, das mehr als sechs Millionen Mal verkauft wurde und sich inzwischen zu einer fünfteiligen Reihe ausgeweitet hat.“ Andere einschlägige Erfolgstitel sind „Die Katze, die von Büchern träumte“ von Sosuke Natsukawa, „Das Restaurant der verlorenen Rezepte“ von Hisashi Kashiwai, „Frau Yeoms kleiner Laden der großen Hoffnungen“ von Kim Ho-Yeon oder „Das Mondscheincafé“ von Mai Mochizuki.  Die Titel verraten bereits das Prinzip: heimelige, „aus der Zeit gefallene“ Schauplätze als Treffpunkt für Klischeefiguren mit konstruierten Problem(ch)en, an denen sich einfache Lösungen ergeben, zur Not mit etwas Magie. Wie sich diese Kümmernisse jeweils rechtzeitig zum Ende der Geschichte auflösen, ist nicht immer nachvollziehbar, und das ist der Trick bei der Sache: die Figuren verhalten sich nicht schlüssig, sondern können im entscheidenden stets über ihren Schatten springen.

Einen der Titel kenne ich sogar. „Frau Yeoms kleiner Laden der großen Hoffnungen“ ist die belletristische Version der seit vielen Jahren in Sachbuch-Form umgehenden Optimismus-Pornographie, die als „Lebensratgeber“ großen Absatz findet. Ich hatte bei diesem Buch zunehmend schlechte Laune – genau wie bei meinem exemplarischen Leseversuch der Vorgänger-Variante vor vielen Jahren, „Lebenskunst“ von Peter Lauster.
Einerseits ist nichts gegen eine Lektüre zu sagen, nach der sich jemand besser fühlt. Dass das tatsächlich der Fall ist, bezweifle ich allerdings. Es gibt weitaus mehr verkaufte Exemplare solcher Bücher als es ausgeglichene Menschen gibt.
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* Nr. 39a / 24.9.2025

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