betr.: 175. Geburtstag von Robert Louis Stevenson (morgen)
„Sei so gut, und lass mich den Kobold sehen! Und danach – hier, sieh das Geld in meiner Hand! – will ich dir die Flasche bezahlen!“
„Ich bin nur um eines bange“, sagte Keawe. „Wenn nämlich der Kobold sehr gruselig ist und du ihn gesehen hast, willst du vielleicht die Flasche gar nicht mehr haben.“
„Ich habe noch immer mein Wort gehalten“, entgegnete Lopaka. „Und hier lege ich das Geld mitten zwischen uns hin.“
„Nun gut. Ich bin selber neugierig. – Kommt heraus, Herr Kobold, und lasst euch einmal sehen.“
Und kaum war das ausgesprochen, so fuhr der Kobold zur Flasche heraus, und schnell wie eine Eidechse war er auch wieder drin.
Keawe und Lopaka waren wie versteinert.
Als sie die Sprache wiederfanden, war bereits fällige Nacht hereingebrochen. Dann schob Lopaka schweigend das Geld hin und nahm die Flasche.
Diese Textstelle, die den Leser so aufreizend anschmiert, stammt aus einer insgesamt großartigen Novelle namens „Der Flaschenteufel“ („The Bottle Imp“, 1891). Der mdr hat sie als kurzes Hörbuch in die ARD-Audiothek eingepflegt. Es sind 12 Monate Zeit, sich dieses Vergnügen zu gönnen.
Die Handlung: Der junge Hawaiianer Keawe, erwirbt eine mysteriöse Flasche, die ihrem Besitzer jeden Wunsch erfüllt, ein Leben lang. Wer sie jedoch noch im Augenblick seines Todes besitzt, wird im ewigen Höllenfeuer schmoren (was vor 150 Jahren eine einschüchternde Aussicht war und heute noch als Metapher gut funktioniert). Das hübsche Gefäß ist unzerstörbar, und um es wieder loszuwerden, muss man es verkaufen. Und zwar billiger, als man es erworben hat, sonst kehrt es wieder zu seinem Besitzer zurück. Außerdem muss man dem Käufer vorher alle Bedingungen offenbaren …

Der Autor mit seinem „Clan“ auf Opulu. (Foto: ARD Audiothek)
Die großartige Lesung stammt von 1966, also aus der künstlerischen Phase von Achim Gertz, der später NDR-Chefsprecher in Hannover wurde und noch viele Jahre lang als Anmoderator der von Hanjo Kesting eingerichteten Klassikerlesung „Am Abend vorgelesen“ als ungenanntes Stimm-Gespenst zu erleben war. Ausgerechnet im Rahmen der ARD-Sparmaßnahmen wurde dieses kostbare, ohnehin aus dem Archiv bespielte Format, zu dessen Haupt-Interpreten der große Gert Westphal zählte, vor zwei Jahren geschlachtet. Damit verstummte auch Achim Gertz.
„Der Flaschenteufel“ stammt von Robert Louis Stevenson, einem unerhört zeitgenössischen Klassiker, der von uns auf zwei Werke reduziert wird: das Popkulturphänomen „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ und die zum Kinderbuch zusammengepresste Abenteuergeschichte „Die Schatzinsel“.
Zur Entstehung des „Flaschenteufels“ steht im ARD-Text: „Stevenson schrieb diese Novelle auf der Samoa-Insel Upolu, wo er mit Frau und Kindern von 1890 bis zu seinem Tod 1894 lebte. Er starb mit 44 Jahren an Tuberkulose. Stevenson, der immer viel gereist war, betrieb auf Upolu eine Plantage – und war dort schriftstellerisch sehr produktiv. Seine zwölf samoanischen Diener nahm er wie Familienangehörige in den ‚Stevenson-Clan‘ auf. Die Inselbewohner gaben ihm den Namen Tusitala: der Geschichtenerzähler. Stevenson versuchte, in dem dortigen Konflikt zwischen den Inselbewohnern und den europäischen Vertretern zu vermitteln, letztere empfand er als inkompetent. Er verfasste dazu den Essay: ‚Eine Fußnote zur Geschichte – Acht Jahre Unruhen auf Samoa‘. Stevenson unterstützte u. a. den samoanischen Oberhäuptling Mataafa, der sich im Konflikt mit seinem Rivalen Laupepa befand. Das britische Foreign Office empfahl Stevenson daraufhin, sich auf das Schreiben zu konzentrieren, was er ignorierte. Nach seiner Niederlage unterstützte der Stevenson-Clan Mataafa und weitere Inhaftierte mit Lebensmitteln und Medikamenten. Als Dankeschön bauten die Anhänger des Häuptlings 1894 eine Verbindungsstraße (genannt ‚Straße der liebenden Herzen‘) mitten durch den Urwald nach Vailima, dem Haus der Familie. Seit 1994 beheimatet es das Robert-Louis-Stevenson-Museum.“