Mein erster Algorithmus

betr.: Jaron Lanier / 30 Jahre RTL

In seiner Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche rief uns Jaron Lanier, frischgebackener Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, in Erinnerung, dass wir alle, mit jedem Schritt, den wir in der digitalen Welt tun, den Datensatz vergrößern, den wir mit uns herumschleppen. Dass mir mein Computer ständig maßgeschneiderte Reklame macht, die er sich aus meinem Netzverhalten zusammengepusselt hat, nervt mich nicht nur, es ist auch deshalb leicht demütigend, weil mich noch nie eines seiner Angebote erreicht hat.
Tröstet mich das? Denke ich jetzt vielleicht: ihr kriegt mich nicht! So leicht kommt mir keiner auf die Schliche? – Keineswegs. Wenn ich schon ein gläserner Mensch bin (so nannte man das in den seligen Zeiten des Protestes gegen die Volkszählung – lang, lang ist’s her), wenn ich außerdem ständig mit Aufploppfenstern geneckt werde, dann könnten mir Google oder die NSA wenigstens verraten, was ich wirklich gern wüßte. Aber wer mir den „Fix & Foxi“-Jahrgang 1974 günstig überlassen würde (mit dem sechsteiligen Sammelposter noch drin!), das wissen die Heinis eben auch nicht. „Big Brother“ ist nicht nur indiskret, er ist auch noch zu nichts nutze.

Erinnern Sie sich noch, wann Sie zum ersten Mal Gegenstand einer solchen Berechnung geworden sind, wann irgendeine höhere Macht so getan hat, als könnte sie Ihre geheimsten Launen vorausberechnen?
Bei mir ist es etwas mehr als 30 Jahre her – das fiel mir wieder ein, als letztes Frühjahr RTL seinen 30. Geburtstag feierte.
In den Jahren davor bedeuteten diese drei Buchstaben nämlich etwas völlig anderes.* Sie waren der Name eines (des ersten?) Privatsenders der deutschsprachigen Rundfunklandschaft. Frank Elstner stand als Programmdirektor der größten Gruppe talentierter Mikrofonpersönlichkeiten vor, die es je auf einem Haufen gegeben hat. Zwischen 5 Uhr 30 und ein Uhr nachts gestalteten sie einen Hausfrauenfunk, der so frech und kreativ war, dass im gesamten Sendegebiet die öffentlich-rechtliche Konkurrenz bibberte. (Immerhin SWF3 machte ein sehr ordentliches Konkurrenzprogramm.) Die Sprecherinnen und Sprecher – sie traten stets nur unter dem Vornamen auf – schienen entweder ihre eigenen Platten zu spielen oder sie
taten es wirklich. Sie vermittelten mir am Lautsprecher das Gefühl, das alles finde hauptsächlich meinetwegen statt. Ich war von einigen dieser Leute so begeistert, dass ich mir sogar dann ihre Programme anhörte, wenn ich die Musik gar nicht mochte („Country Coach USA“ mit Achim) oder wenn mich das Thema der Sendung gar nichts anging („RTL-Radioskat mit Jörg Ulrich).
Doch genug davon – wer es nicht erlebt hat, dem müssen diese Schilderungen ziemlich weltfremd vorkommen.
Jedenfalls muß ja irgendetwas vorgefallen sein, was dazu geführt hat, dass heute landauf, landab alle Privatsender gleich klingen. Alle reden über dasselbe. Alle spielen die gleiche Musik. Sogar die Stimme(n) der Moderatoren sind zum Verwechseln ähnlich. (Wer auf der Autobahn nach Süden fährt und dabei das Radio laufen läßt, kann das bestätigen.)

Nachdem Frank Elstner mit „Wetten dass ..?“ einen Riesenhit gelandet hatte, fühlte er sich zu bedeutend für den Rundfunk. Er kündigte an, von nun an regelmäßig ein solch bahnbrechendes TV-Format in die Welt zu setzen und räumte seinen Posten als Programmdirektor von Radio Luxemburg. Sein Nachfolger Helmut Thoma beschwichtigte jene ebenda, die Angst um die besondere Atmosphäre ihres Lieblingssenders hatten – niemand hätte die Absicht, irgendetwas zu errichten ….
Als ich das Radio wieder einschaltete, glaubte ich den falschen Kanal erwischt zu haben. Eine sehr knapp kommentierte Musikzusammenstellung aus dem Rotationscomputer begrüßte mich, das gesamte Programmschema war futsch, ab 20 Uhr gab es gar keine Moderation mehr, viele meiner Lieblinge waren nicht mehr aufzufinden. Von einem Tag auf den anderen war die 25jährige Tradition der „Vier fröhlichen Wellen“ eingestampft worden.
Und das war erst der Anfang.
Was war passiert?
Ein niederländischer Medienberater namens Ad Roland hatte eine Formel entwickelt, die bestimmte, welche Musiktitel wann und wie lange laufen müssen, um rein statistisch zu bewirken, dass möglichst wenige Leute umschalten. Für kurze
Zeit – und rein mathematisch – mag und muß die Sache aufgegangen sein. Als nun deutsche Privatrundfundfunkstationen hinzukamen, mit denen sich der Werbekuchen geteilt werden mußte, hatte das reformierte „RTL Radio“ ohne Persönlichkeiten und ohne Musikredaktion keine Chance mehr. Zuletzt wurde es von Praktikanten bewirtschaftet …
Auch Helmut Thoma – wir erinnern uns – war rasch zum Fernsehen weitergezogen. Hier erfand (!) er unter anderem die „Werberelevante Zielgruppe“ der 14 bis 49jährigen, die seither Angst und Schrecken verbreitet.

Wäre diese Geschichte ein Roman, wäre sie ein Bestseller. Da sie wahr ist, ist sie noch etwas viel Besseres: das uns umgebende Prinzip, von dem Jaron Lanier gesprochen hat.

 

* Gewiß, die Buchstaben stehen heute wie in alter Zeit für „Radio Tele Luxemburg“.

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