betr.: Neuere Musikgeschichte
Diese Serie basiert auf meinem Unterricht „Musicalgeschichte“°.
Einführung
Was ist Jazz? Er ist die musikalische Umsetzung des Schmerzes der verschleppten, kulturell entwurzelten und entrechteten Afroamerikaner. In ihm sind die Musiktraditionen der afrikanischen Sklaven gespeichert, die – wie auch alle ihre übrigen – von den neuen Herren brutal unterdrückt wurden. Die Klagerufe (Hollers) bei der Feldarbeit legten den Grundstein für Gospel und Blues. Doch während sich im Gospelgesang ein gewisser Optimismus, die biblische Hoffung auf eine bessere Welt auslebt, illustrieren die verschiedenen Formen des Jazz, die sich daraus entwickelten, so etwas wie eine innere Emigration, einen lauter werdenden Protest.
Und das geschieht mit den Musikinstrumenten der Fremde.
Eine einleuchtende Legende begründet die wichtige Rolle, welche das Blech im Jazz einnimmt, mit der Auflösung unzähliger Militärkapellen nach dem Ende des Sezessionskrieges. Die Weißen hatten keine Verwendung mehr für all die Blechblasinstrumente, deren sich die schwarzen Musiker nun bemächtigen durften.
Neben der kommerziellen Filmkunst (deren Erfindung in Deutschland und Frankreich erfolgt war) und dem Comic (dessen unmittelbare Vorläufer in Deutschland liegen), ist der Jazz der wichtigste US-amerikanische Beitrag zur Kultur des 20. Jahrhunderts. Nachdem er 1924 von George Gershwin in der „Rhapsody In Blue“ mit dem klassischen Idiom der europäischen Spätromantik vereint worden war, eroberte er die Konzertsäle, den Broadway und etwas später das Kino und beeinflußte so auch die Unterhaltungsmusik der Alten Welt – schon bevor „Swing-Tanzen verboten“ und wieder erlaubt war.
Neu war vor allem die Improvisation, die „Freiheit, viele Formen zu haben“. In dieser Musik wurde nicht länger einem wohlklingenden Ideal nachgeeifert, es ging vielmehr darum, das jeweilige Instrument so zu spielen, wie es zuvor noch niemand getan hatte, den Klang „aufzubrechen“.
Doch das ist bereits ein Vorgriff.
Wie zuvor schon die Operette und das Musical, bekam der Jazz seinen Namen im heutigen Sinne nicht sofort, sondern erst etwa im 30. Jahr seiner Entwicklung, als klar wurde, dass sich hier etwas wirklich Neues dauerhaft auf den Weg in die Alltagskultur gemacht hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits mehrere Stilrichtungen durchlaufen. Diese Stile wollen wir uns etwas genauer ansehen.
Der Ragtime (Blütezeit: 1880 – 1900)
Rag = Fetzen, Zerrissenes; Time = Zeit, Ära, Takteinheit – beides zusammen meint den hier auch den Umbruch zum neuen Jahrhundert.
Der Ragtime gehört – wie das Spiritual und der frühe gesungene Blues – in das Vorfeld des Jazz, denn ihm fehlen noch zwei wesentliche Eigenschaften: die Improvisation und die Band-Besetzung. Er ist eine komponierte und ausnotierte Klaviermusik, die sich von der europäischen Salonmusik jener Zeit (der Musik des „fin de siécle“ bzw. der Belle époque“) durch einen härteren Beat der linken und die stark punktierten und synkopierten Rhythmen der rechten Hand unterscheidet. Zuerst wurde er in New Orleans in Louisiana in Bordellen gespielt. Diese Stadt im „dampfenden“ Süden der USA* ist geprägt von Musik und Kultur, die sich eben nicht – wie anderenorts in den USA – weitgehend aus der anglo-amerikanischen Tradition speist. In New Orleans trafen französische und spanische Einflüsse auf Menschen aus der Karibik und aus Afrika, um nur die wichtigsten Bevölkerungsgruppen zu nennen, die der Sklavenhandel an die Küste spülte.
Viele Ragtime-Melodien wurden nach der Jahrhundertwende in den New-Orleans-Jazz°° übernommen und bildeten auch die Grundlage für den wichtigsten Modetanz der 20er Jahre, den Charleston.
Der “Ragtime King“, ist Scott Joplin, dessen Musik, besonders sein wichtigster Tune „The Entertainer“, in dem Filmerfolg „The Sting“ („Der Clou“) 1974 wiederbelebt wurde. (In der Bundesrepublik kam das besonders gut an, da in dieser Zeit gerade eine entsprechende Nostalgiewelle rollte.) Joplins „Entertainer“ ist eine oft genutzte Tonfolge für Daddel-Automaten und Warteschleifen und auch als Klingelton ist er immer in Reichweite.
Ein weiterer namhafter Ragtime-Musiker war Jelly Roll Morton.
(Fortsetzung folgt)
* Der Film „Ragtime“ von Milos Forman, der später als Bühnenmusical wiederkehrte, beschreibt die Ära und ihre gesellschaftlichen Untiefen.
° Hierbei leistete mir das unverzichtbare Standardwerk von Joachim-Ernst Berendt große Dienste: „Das Jazzbuch“
°° siehe nächste Folge
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