betr.: Neuere Musikgeschichte
Diese Serie basiert auf meinem Unterricht „Musicalgeschichte“.
Für die narzisstischen und hedonistischen „Roaring Twenties“ bzw. die „Goldenen Zwanziger“ prägte der Schriftsteller F. Scott Fitzgerald den treffendsten Begriff: das Jazz-Age. (Sein Roman dazu „Der große Gatsby“ ist unlängst durch die Verfilmung mit Leonardo DiCaprio wieder ins Gespräch gekommen.) Der Siegeszug des Jazz in den 20er Jahren war aber nur ein Bestandteil eines umfassenderen Phänomens. Die sogenannte Harlem-Renaissance war ein Aufblühen schwarzer Kreativität, Kultur, Alltagskultur und Kunst, das bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 anhielt.
Harlem, dieses in Upper Manhattan gelegene Viertel, beschrieben schwarze Intellektuelle wie der Dichter Langston Hughes oder der Schriftsteller James Weldon Johnson als großen Magneten, als schwarzes Mekka. Aber auch der Weiße Carl Van Vechten, der damals eine zentrale Rolle im kulturellen Leben New Yorks spielte, partizipierte an der Bewegung: als Romancier, Fotograf und Kritiker ist er einer der wichtigsten Chronisten des Jazz-Age, besonders seiner musikalischen Aspekte. Er war der erste, der in Amerika über Strawinsky und über Gershwin schrieb.
„Harlem war bis 1910 noch eine hauptsächlich weiße Nachbarschaft mit starkem Einwandereranteil. Es gab neben einer kleinen afroamerikanischen und einer starken jüdischen auch polnische, russische und italienische Communities. Erst die sogenannte great migration, die jahrelang anhaltende Fluchtbewegung, die Hunderttausende von Afroamerikanern aus dem offen rassistischen Süden in die großen Städte des Nordens trieb, änderte das. Nicht dass es hier keinen Rassismus gegeben hätte, aber die besseren Aussichten auf Arbeit, Erziehung und die relative Freiheit eines urbanen Zentrums führten auch zu einer kleinen wohlhabenden Mittelschicht und der Harlem Renaissance. Die Große Depression setzte dieser Entwicklung ein jähes Ende und machte aus Harlem ein Armenviertel. Und spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg ein schwarzes Elendsviertel, das [der Schriftsteller James] Baldwin ‚the Harlem ghetto‘ oder sogar ‚the slum‘ nennt.“ (René Aguigah, Max Böhnel und Andreas Robertz im DLF-Radiofeature „James Baldwin – Der wiederentdeckte Vordenker“)
In ihrem Musical „Golden Boy“ (1964) fassen Lee Adams und Charles Strouse die Klischees und Widersprüche dieses Viertels in dem Song „Don’t Forget 127th Street“ zusammen.
Den wichtigsten Modetanz und die „Titelmusik“ der 20er Jahre, den Charleston, hat 1923 das Musical „Runnin’ Wild“ populär gemacht, dessen Musik von dem legendären Pianisten James P. Johnson stammte. Ebenso schwarzen Ursprungs waren praktisch alle angesagten Gesellschaftstänze des frühen 20. Jahrhunderts. Sie hießen Cake Walk, Black Bottom oder trugen kuriose, in die Tierwelt schielende Namen wie Turkey-Trot, Bunny-Hug, Grizzly-Bear oder Foxtrott. (Woody Allen bezieht sich auf diese Kultur, indem er dieser Reihe in seinem fiktiven Biopic „Zelig“ den „Chameleon Dance“ hinzufügt.) Ohne den Lindy Hop hätte es im Übrigen einige Jahre später den Rock’n’Roll nicht gegeben. In seinem Roman „Parties“, in dem Carl Van Vechten 1930 die turbulente, exzentrische Atmosphäre des gerade vergangenen Jahrzehnts einfängt, zeichnet er diese Entwicklung nach.
Die Harlem-Renaissance brachte auch das amerikanische Musiktheater nach vorne: 1922 schrieb der 23jährige George Gershwin – die „Rhapsody In Blue“ und der Weltruhm lagen noch vor ihm – einen durchkomponierten, Rezitative verwendenden Einakter mit dem Titel „Blue Monday“, eine Art Kurzoper mit schwarzem Sujet. Rückblickend lässt sich darin die Keimzelle von „Porgy And Bess“ erkennen. Doch auf dem Weg zu diesem rein schwarz besetzten Klassiker für das internationale Publikum mußte der Broadway – und in seinem Gefolge auch die Gesellschaft – noch zwei wichtige Stufen nehmen. 1927 kam „Show Boat“ heraus, der erste Musical-Welterfolg und das erste kommerziell erfolgreiche Werk, in dem Darsteller beider Hautfarben gleichrangig zusammen auftraten.° 1933 erlaubte sich ein Musical von Irving Berlin mit ebenfalls gemischtem Cast erneut, die Rassenthematik zu verhandeln: „As Thousands Cheer“. Ethel Waters sang darin den anrührenden Song „Supper Time“, in dem sie – der Macht der Gewohnheit erlegen – das Abendessen für ihren Mann zubereitet, der soeben einem Lynchmob zum Opfer gefallen ist.
Ein Held der Harlem-Renaissance hat es zu besonders anhaltender Präsenz in der Popkultur gebracht: Cab Calloway, Harlems sicherlich „coolster Hund“. 1980 hatte er die Möglichkeit, seine Parade-Nummer einer ganz neuen Zuschauergeneration vorzuführen. In dem Kultfilm „The Blues Brothers“ singt er „Minnie The Moocher’s Wedding Day“ – und genau wie 50 Jahre zuvor, stimmt der Saal ungeprobt mit ein in das unverwechselbare „Hi De Hi De Hi De Hi“.
(Fortsetzung folgt)
° Näheres dazu lesen sie am 27.12.