Auf der Glatze Locken drehen

betr.: Pier Paolo Pasolini zum 39. Todestag

In gewissen intellektuell hochmögenden Kreisen pflegt man dem absinkenden Stimmungspegel zu später Stunde mit einem grundsätzlichen Kommentar zum Kunstbegriff aufzuhelfen. Etwa mit dem Ausruf: „Kunst darf nicht zugänglich sein!“ Oder: „Sobald ein Zuschauer versteht, worum es geht, kann es nichts mehr mit Kultur zu tun haben!“ Oder „Wenn einer lacht, ist es kein Humor!“ Da freut sich der Hauptstadt-Eierkopf. Selbst Richard Wagner würde sich bei so viel Kultur-Philisterei vermutlich einen Doppelten genehmigen. Kaum eine solche Gesprächs-/Talkrunde kommt ohne den Abschiedsfilm von Pier Paolo Pasolini aus. Der italienische Meister war zum Zeitpunkt der Dreharbeiten zwar noch immer ein schöner Mann, aber zu seinem Leidwesen eher ein „Frauentyp“, zwar reich und berühmt, aber von Weltmüdigkeit und Selbstekel zernagt – wie das oft so ist, wenn man sich an den guten Zeiten überfressen hat. Ein kluger Kritiker schrieb einmal über Hitchcocks „Vertigo“: „Hemmungsloser hat nie ein Filmregisseur sein Innerstes nach außen gekehrt!“ Nun, dieser Rezensent hatte wohl „Die 120 Tage von Sodom“ nicht gesehen – und dazu kann ich ihm nur gratulieren.

Ich selbst hatte über dieses Werk schon einiges gehört und gelesen und fühlte mich als jugendlicher Archivcineast dazu verpflichtet, diese Bildungslücke einmal zu schließen – schon um der Gefahr zu begegnen, dass mich Benjamin von Stuckrad-Barre einmal fragt: „Hammse den Film denn überhaupt gesehen?“ Das Internet war noch nicht eingerichtet, das Fernsehen spielt hier nicht mit, also mußte ich bis zum Besuch eines Filmfestivals in der schönen belgischen Tuchmacherstadt Gent warten, bis sich die Gelegenheit ergab. Ich habe es ertragen wie ein Soldat. 

Worum geht es in und bei „Die 120 Tage von Sodom“? Der o.g. berühmte Filmregisseur beschließt, vor seinem effektvoll inszenierten Freitod noch einen selbst für seine Verhältnisse immensen Skandalfilm vorzulegen. Er läßt jene jungen Menschen, die ihm inzwischen sexuell nicht mehr gewogen sind, von einer Rotte höherer älterer Herrschaften in ein schloßähnliches Anwesen verschleppen, sie dort mit Fäkalien einreiben, sie an die Hundeleine legen und sonstwie erniedrigen und schließlich sämtlich abschlachten. Rache ist bekanntlich süß. Da auch der gutwilligste französische Filmkritiker sofort gerochen hätte, dass hier eine verbitterte Koksnase ihrer selbstgerechten Alterslarmoyanz Luft macht und sonst gar nichts, steckt Sado-Paso das Hauspersonal in finstere Uniformen und verlegt die Handlung in eine Immobilie, die er dem Faschistenführer Benito Mussolini zuschreibt. So jazzt er das Ganze zum Polit-Drama hoch. (Der Name der Diktatorenvilla „Salò“ wird im Originaltitel aufgerufen.) Der Plan geht auf: prompt wird das Werk sowohl wegen seiner selbstzweckhaften Derbheit geschmäht als auch – auf die mediterrane Feuilleton-Schickeria ist Verlass – als politisches Statement gepriesen: Bravo – so frech hat noch keiner dem Rechtsradikalismus auf’s Maul geschlagen! Die vielleicht größte Gruppe der Betrachter findet‘s einfach nur dämlich, aber die sieht den Film eher privat und mischt sich nicht in die öffentliche Debatte ein. Der Provokateur kann zufrieden sein und begibt sich an den Strand, wo sein eigenhändig gedungener Mörder pünktlich den Hammer hebt.

Eine beträchtliche Zahl kluger Männer lobt den Film seither, adelt ihn gar als „Lieblingsfilm“. Michael Haneke gehört dazu. Der meint aber beiseite, er habe wohl keine Lust, ihn sich ein weiteres Mal anzusehen. (Wir stellen fest: mit dem Wort „Lieblingsfilm“ ist das so eine Sache.) Frank Noack, Autor einer famosen Biographie über „Veit Harlan – Des Teufels Regisseur“ freut sich ebenda, auf welch „grandiose Weise“ sich Pasolini „vom Kino verabschiedet“ habe. Der selbsternannte Bürgerschreck Jonathan Meese meinte am 26.10.2013 auf einem Symposium in der Deutschen Oper Berlin*: „Die 120 Tage von Sodom“ sei (neben einer Reihe von Filmen, die hauptsächlich von Stanley Kubrick stammen) „Kunst“, weil er „hermetisch (…), nicht ans Publikum gerichtet, nicht moralisch, nicht ethisch, nicht sittlich, (…) völlig unabhängig“ sei. – Im Gegensatz zu Chaplins „Der große Diktator“, den er „120mal gesehen“ haben will (also vermutlich häufiger als die „Die 120 Tage von Sodom“), denn der sei ja moralisch. Aber Moment mal, Herr Meese, Sie alter Schlingel! Ein Film, der meint, seine notgeilen Schweinigeleien mit einer an den Haaren herbeigezogenen Mussolini-Verpackung rechtfertigen zu müssen, tut zumindest moralisch, und das darf Kunst dann doch sicher auch nicht, oder? Und mit seiner Unabhängigkeit kann es dann ja auch nicht weit her sein. Und überhaupt: wenn Kunst nicht moralisch sein darf, dann ist ja auch Picassos „Guernica“ keine Kunst – denn die ist ja eine Reaktion auf die Zerstörung der gleichnamigen Stadt im Spanischen Bürgerkrieg.* Wie? Sie haben das alles gar nicht so gemeint? Ist doch alles nur pseudointellektuelles Gequalme, um Heinis wie mich zu provozieren, die solche Gesprächsthemen tatsächlich für relevant halten? Potzblitz, mein lieber Meese! Jetzt bin ich doch tatsächlich drauf reingefallen. War wohl mal wieder alles gar nicht so wichtig. Na, dann is‘ ja gut.

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* Picasso sagte über seine künstlerische Motivation bei diesem Bild Ende 1937, dass jemand „der mit geistigen Werten lebt und umgeht, angesichts eines Konflikts, in dem die höchsten Werte der Humanität und Zivilisation auf dem Spiel stehen, sich nicht gleichgültig verhalten kann.“

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