Zocke, und dir wird gegeben

betr.: 79. Jahrestag der Uraufführung von „Die Irre von Chaillot“

Im Matthäus- (25, 14–30) und im Lukasevangelium (19, 12–27) findet sich eine Geschichte, die mich als Schüler im Religionsunterricht sehr verstimmt hat: „Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten“. Es erzählt von drei Söhnen, denen der Vater je nach Begabung unterschiedliche Geldbeträge – „Talente“ – übergibt. Als es Jahre später zur Abrechnung kommt, hat Sohn Nr. 3 als einziger nicht versucht, seinen Reichtum zu mehren, sondern die Knete ver- und wieder ausgegraben. Stolz präsentiert er den unveränderten Betrag, während die Brüder beide reicher geworden sind als zuvor. Die Zocker werden nun vom Vater gelobt – in biblischer Zeit verlor man wohl kein Geld, wenn man spekulierte. Der faule (aus meiner Sicht genügsame, vorsichtige) Sohn wird hingegen verstoßen, was selbstverständlich auch seine Enteignung bedeutet.
Am Ende der Stunde hoffte ich, unsere Lehrerin würde den armen Kerl wenigstens ein bisschen in Schutz nehmen, aber die kapitalistische Moral von der Geschicht‘ blieb im Raume stehen.
Die Bibel ist – das lernte ich daraus – durchaus nicht jenes optimistische Regelwerk, das dem Gutwilligen als Handbuch dienen kann, sie zeigt die Welt in all ihrer Erbärmlichkeit. (Inzwischen habe ich in einem Zeitungsartikel einen Erklärungsansatz gefunden, der mich aber nicht überzeugt. Darin heißt es, das Gleichnis beschriebe, wie viel die Fähigkeit, die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten richtig einzuschätzen, zur Erfüllung beitrüge …)
Damit wir uns nicht missverstehen: ich bin ein Freund von freier Marktwirtschaft, dem Streben nach Glück und ein Verächter kommunistischer Heilsversprechen. Dennoch bin ich ersättlich und habe damit immer gute Erfahrungen gemacht – besonders in den wilden Tagen, als unzählige raffgierige Kleinbürger in der New Economy ihr Vermögen verjuxten.

1945 feierte eine Satire von Jean Giraudoux Premiere, die heute als das erste Öko-Stück gilt und außerdem einen (scheinbar noch nie dagewesenen) entfesselten Kapitalismus anprangert. Der heutige Betrachter findet sogar Kommentare zur aktuellen Fracking-Diskussion darin. Dieses Werk war seiner Zeit derart voraus, dass man es unter „absurdes Theater“ eingeordnet hat – zu dessen Klassikern es heute gezählt wird, neben Becketts „Warten auf Godot“ oder „Die kahle Sängerin“ von Ionesco.

1969 wurde ein Musical daraus gemacht – nun, es wurde zumindest versucht. Der Komponist und Songtexter war Jerry Herman. Dieser hat mit seichten Arbeiten immer wieder fulminante Erfolge gefeiert (seine größten Hits sind „Hello, Dolly!“ und „La Cage Aux Folles“), während wahre Geniestreiche gern mal durchfielen (der Broadway schämt sich bis heute des Mißerfolges von „Mack And Mabel“). „Dear World“ nach „La Folle de Chaillot“ verendete am Broadway nach schwierigen Tryouts, aber es gibt ein Cast-Recording, das uns heute in die Lage versetzt, dieses Musical im Geiste zu rekonstruieren, mit den Fotos, die Angela Lansbury (!) in der Titelrolle zeigen und der Geschichte, die wir aus dem Theaterstück kennen.
E
inige graue Herren planen in einem frühlingshaften Pariser Strassencafé ein Komplott, um an das Erdöl zu kommen, welches sie im Untergrund von Chaillot und unter weiteren Stadtvierteln vermuten. Ein hilfloses Hudelvölkchen ist damit nicht einverstanden: Lumpensammler, Blumenverkäufer, Jongleure, Straßensänger und ein Taubstummer, der die Schufte nicht aus den Augen läßt. Hinzu tritt eine schrullige Alte: die titelgebende „Irre“ von Chaillot, die von den Stammgästen immerhin ehrfurchtsvoll mit „Gräfin“ angesprochen wird. Sie wird eine Strategie ersinnen, die „liebe Welt“ zu retten …
Höre ich die Songs des Albums und mache mir diese Geschichte bewußt, dann weiß ich nicht, was damals schiefgegangen sein und einen verdienten Klassiker verhindert haben könnte. Ich weiß nur, dass diese Show auf eine unserer großen Bühnen gehört – gar nicht mal wegen ihrer klugen Kommentare zum Ist-Zustand der Welt, aber auch die würde ich gerne mitnehmen.
Dieser Gedanke ist genauso aussichtslos wie Rettung der Welt.
Aber man wird ja noch träumen dürfen.

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