betr.: 29. Jahrestag der Filmpremiere von “A Chorus Line”
Hin und wieder ärgere ich meine Studenten mit der Aufforderung, sich etwas zu erhören, was (noch) nicht ihren Hörgewohnheiten entspricht. Ich erwecke dann den Eindruck, ich hätte gut reden, weil meine Hörgewohnheiten eben zufällig zum Unterrichtsstoff passen. Das täuscht: Ich weiß, wie schwer ein solches Abweichen von der lieben Gewohnheit ist und wie sehr es sich zuweilen lohnt.
Als Teenager war das Musical-Idiom für mich das von MGM: klassische Songs des „Great American Songbook“ mit sinfonischer Big-Band-Begleitung, das alles im typischen Lichtton-Sound, wenn das Fernsehen alte Filmmusicals zeigte. Eines Tages wurde diese Gemütlichkeit auf eine harte Probe gestellt.
Mein Faible für Filmmusik hatte mich auf den Namen Marvin Hamlisch gebracht. Seine Musik war mir einem James-Bond-Soundtrack aufgefallen, der ausnahmsweise nicht von John Barry stammte: „Der Spion, der mich liebte“. Auch Woody Allens „Bananas“ waren von Hamlisch (– kurz darauf ging dieser Regisseur bekanntlich dazu über, seine Filmmusik aus Archivaufnahmen zusammenzustellen). Nun wollte ich mehr davon haben und ging in ein Elektrogeschäft, weil es damals auf dem Dorfe keine Plattenläden gab. Der Verkäufer wuchtete einen mächtigen Wälzer auf den Tresen, den sogenannten „Bielefelder Katalog“, in dem die lieferbaren Langspielplatten verzeichnet waren. Der Name Hamlisch tauchte abgesehen von der Bond-Platte noch dreimal auf: mit „The Sting“, „Ice Castles“ und „A Chrorus Line“ – das alles sagte mir nichts. Jede dieser Platten würde mich c.a. unglaubliche 25 Mark kosten – ich konnte mir also kaum eine davon leisten. Eine innere Stimme sagte mir aber, so schlimm würde es sicher nicht kommen – und ich bestellte alle drei.
Ich behielt recht: es kam nur eine. Sechs Wochen später durfte ich das beliebte blassgrüne Klapp-Album „A Chorus Line“ mit nach Hause nehmen. Meine Enttäuschung, als ich die Nadel auf die Rille setzte, hätte nicht größer sein können.
Zunächst einmal war das gar kein Soundtrack – dieser Hamlisch war offensichtlich und frecherweise auf mehreren Gebieten tätig. Immerhin ein Musical, soso …? Aber was für eins? Keine Spur von swingendem Orchestersound, von lilty tunes und Nachtclubatmosphäre. Ich hörte eine kleine Besetzung mit viel Schlagwerk, aufgeregte, fast privat klingende junge Stimmen mit einem Repertoire, das sich für mich im ersten Moment wie „Neue Musik“ anfühlte. Ich hörte auf Anhieb kein einziges Thema heraus.
Nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte, beschloß ich tapfer zu sein. Es müsse doch etwas taugen, was ich mir da angelacht hatte – schließlich war es ja Marvin Hamlisch! Außerdem ahnte ich, dass mein 15ähriger Musikhorizont eine Dehnung gut vertragen könnte. Der Song „The Music And The Mirror“ – der ganz besonders rüde mit seinen Klangvorstellungen umging – hat mich sogar schon ein wenig angefixt, eine Welle fast wohligen Grusels hatte mich beschlichen.
Ich verordnete mir also eine Gewaltkur: mindestens fünfmal wollte ich die Platte komplett aufmerksam anhören, ehe ich mich in die Tatsache fügte, mich verkauft zu haben.
Schon beim ersten vollständigen Anhören (im Rundfunk nannte man diese akustische Pflichterfüllung „Abhören“) fiel mir das Finaletto „What I Did For Love“ angenehm auf, ein „schönes Lied“ im klassisch-konventionellen Sinne. Beim zweiten oder dritten Mal erkannte ich die Qualitäten von „Nothing“ und „At The Ballet“. Es blieb eine wackere Aufgabe, aber es begann, mir Spaß zu machen.
Bald darauf erfuhr ich, dass diese Show am Broadway bereits Langlaufrekorde gebrochen hatte. In Deutschland wußte man nichts davon, denn aktuelle Musicals waren seinerzeit (gerade eben noch) kein Thema auf dem hiesigen Unterhaltungsmarkt. „A Chorus Line“ gehörte nur mir allein – ich fühlte mich, als hätte ich daran mitgearbeitet.
Fazit: wie genial Marvin Hamlisch wirklich war, wußte ich nach diesem Abenteuer viel besser als zuvor – und noch immer ist „The Spy Who Loved Me“ einer meiner Lieblingssoundtracks der 70er Jahre.
Aber um meine „Chorus Line“-Aventure noch rasch zuendezubringen: Mitte der 80er Jahre kam die populäre Verfilmung mit Michael Douglas heraus. Die Musik, die ich vom Cast-Recording kannte, klang plötzlich wie Tütensuppe aus der Dose, billig gefertigter 80er-Mumpf (mit noch kleinerer Besetzung!), und „The Music And The Mirror“ fehlte gleich ganz, wenn auch nicht ersatzlos. „Let Me Dance For You“, ein Song auf der „Höhe“ der Zeit, war an seine Stelle getreten. „Mein modernstes Musical“ war mir entrissen worden. Als ich geraume Zeit später vor meine erste Musical-Klasse trat, war „A Chorus Line – The Movie“ bereits schon wieder vergessen. Viel hatte sich inzwischen getan auf dem deutschen Show-Sektor.
Heute kann ich es kaum fassen, aber auch „Les Parapluies de Cherbourg“ war für mich zunächst ein hartes Stück Arbeit. Dieses komplett durchkomponierte bittersüße Drama vor dem Hintergrund des Algerienkrieges kannte ich – wie die meisten Musicals – nur als Plattenaufnahme. Auch hier ahnte ich, das müsse etwas ganz Famoses sein, aber ich kam nicht mit. Ein frankophiler Kollege vom Saarländischen Rundfunk hatte mir einmal geraten: „Bleib dran! Es lohnt sich!“ Erst Jahre später ging mir in Hamburg der Knopf auf. Eine instrumentale Suite der „Regenschirme von Cherbourg“, von Michel Legrand selbst für Harfe und Orchester arrangiert, erklärte mir die Musik auf Anhieb, und seither wünsche ich mir, ich könnte dieses Glück mit meinen Studenten teilen.
Mir leuchtet ein, warum das nicht so einfach ist!