Hier kocht der Chef! (… isst aber woanders.)

betr.: 47. Todestag von Walter Gropius

Walter Gropius ist eine historische Figur, eine von der rühmlichen Sorte, nicht so ein Halunke wie Richard Nixon oder ein Pfuscher wie Hartmut Mehdorn. Walter Gropius ist einer der Mitbegründer der modernen Architektur, Vater des Bauhauses. Dennoch begegnete mir sein Name zuerst in einem Tatsachenroman, als Chiffre für das Versagen der zivilisierten Gesellschaft, für eine perfekte Todesfalle.
In „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, das zwei Journalisten nach den Tonbandprotokollen der jugendlichen Fixerin Christiane F. geschriben haben, ist die Berliner Gropiusstadt ein realer Ort des Schreckens.

Als die kleine Christiane Felscherinow 1968 mit ihrer Mutter in die Neuköllner Modellsiedlung einzieht, ist die noch nicht ganz fertig. Noch kann das Mädchen einen als „paradiesisch“ empfundenen Spielplatz erreichen und einen Grünstreifen, auf dem es ein paar Bäume und Büsche gibt und wucherndes Gras, alte Bretter, Wasserlöcher. Doch dieser traute Zustand währt nicht lange. Als „sie“ – die Erwachsenen, die Ordnungskräfte … – dahinterkommen, dass die Kinder hier Verstecken spielen und sonstigen Spaß haben, wird eine Reihe von Verbotsschildern aufgestellt. Nicht nur die Hauswarte behalten die Jugend im Auge. Wegen der Nähe zur Berliner Mauer gibt es immer genug Polizisten, die darauf achten, dass Ermahnungen wie „Radfahren verboten!“ und „Hunde sind an der Leine zu führen“ auch eingehalten werden. Nach einiger Zeit verkommt dieses Stückchen „Niemandsland“, wie Christiane das offizielle Vogelschutzgebiet nennt, zur Müllkippe.

Weitaus problematischer aber war das Leben in den Betonsilos selbst, die damals noch unwidersprochen als modernes Wohnkonzept gepriesen wurden. 45 000 Menschen lebten hier, dazwischen Rasen und Einkaufszentren.
Überall stank es „nach Pisse und Kacke. Das kam von den vielen Hunden und den vielen Kindern, die in Gropiusstadt leben. Am meisten stank es im Treppenhaus.“ Christianes Eltern schimpften auf die Proleteninder, die überall hinmachten, aber deren Lage war nicht so einfach. „Das merkte ich schon, als ich das erste Mal draußen spielte und plötzlich mußte“, erzählt Christiane. „Bis endlich der Fahrstuhl kam und ich im 11. Stockwerk war, hatte ich in die Hose gemacht. Mein Vater verprügelte mich. Als ich es ein paarmal nicht geschafft hatte, von unten rechtzeitig in unser Badezimmer zu kommen, und Prügel bekam, hockte ich mich auch irgendwohin, wo mich niemand sah. Da man aus den Hochhäusern fast in jede Ecke sehen kann, ist das Treppenhaus der sicherste Platz.“
Christiane F.s Schilderungen sitzen voller solcher Ausweglosigkeiten. Die Konflikte der naturgemäß grausamen kindlichen Gesellschaft und der jammervolle Zustand der Ehe ihrer Eltern taten ein Übriges.

Vor dieser Horrorkulisse gingen sogar die wenigen ehrenvollen Versuche nach hinten los, der allgemeinen Tristesse und Perspektivlosigkeit etwas entgegenzusetzen. Ein evangelischer Pfarrer richtete einen Treffpunkt für die Jugendlichen ein, das „Haus der Mitte“. Dieser geschützte Raum entwickelte sich mit der Zeit zum zentralen Drogenumschlagplatz für die nach und nach in Abhängigkeit versinkende Zielgruppe. Damit hat das Buch sein Thema.

Eine große Nähe zu seinen Endverbrauchern pflegte Walter Gropius nicht – ein unter Architekten nicht selten anzutreffendes Phänomen. Aber so etwas kommt auch in anderen Bereichen vor: Wer die Sitze der Deutschen Bahn für die Dauer einer längeren Fahrt benutzt hat, ahnt, dass deren Konstrukteure darin allenfalls für kürzere Zeit probegesessen haben dürften.
Walter Gropius starb im Jahr nach Christianes verhängnisvollem Wohnungswechsel im fernen Boston. Vermutlich in einem sanierten Altbau.

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