betr.: Offizielle Erklärung des Austritts aus der EU durch Premierministerin Theresa May
Wären die Briten uns nicht so ans Herz gewachsen mit ihrer zeitlos-skurrilen Herrenmode, ihrer altmodischen Krimi-Kultur, ihrem James Bond, ihren Swinging Sixties, Monty Pythons, Beatles und ihrem heute so unnationalistisch daherkommenden Kult um die Monarchie, wären wir uns nicht außerdem im Klaren darüber, dass der Brexit nur eine sehr knappe Mehrheit einfuhr – und dies auch nur, weil die jungen Menschen, die ihn auszubaden haben werden, mehrheitlich nicht zur Wahl gegangen sind -, und wäre weiterhin die geflügelte Formulierung „die spinnen, die“ nicht seit mehr als 50 Jahren an die „Römer“ vergeben, wir wären versucht, auszurufen: „Die spinnen, die Briten!“
Als wohlerzogene Europäer täten wir es nicht – natürlich nicht!
Wer dieser Versuchung am heutigen finsteren Tage dennoch erliegt, der sei dazu eingeladen, einen Blick auf die harmloseren Auswüchse der politischen Spleenlandschaft Großbritanniens zu werfen.
Aus Gerichtsfilmen wie „Zeugin der Anklage“ oder „Die Nacht ist mein Feind“ wissen wir, dass das Theatralische den Briten im Blut liegt – nicht nur im Gerichtssaal oder im Theater. – Und auch das ist schon wieder ungemein sympathisch.
Die Unterschiede zum Klima im Deutschen Bundestag zeigen sich, wenn die Queen zur formellen Eröffnung des Parlamentsjahres die Thronrede hält. (Seit 400 Jahren beginnt diese Zeremonie mit der Durchsuchung der Kellergewölbe, wo der Katholik Guy Fawkes, dessen grinsende Maske heute zum Icon für das „Gefühl von Einigkeit und Anonymität“ geworden ist, 1605 vergeblich versuchte, den Palast von Westminster mit Schießpulver in die Luft zu jagen.) Das schräge Ritual wird mit Fanfaren fortgesetzt, Ankunft per Kutsche, roten Roben, Hermelin und Staatskrone, mit all dem „Pomp“ und den „Circumstances“, die wir mit dem Vereinigten Königreich verbinden. Die Königin schickt vom House Of Lords einen Boten den Gang hinunter zum Unterhaus. Um ihre Macht gegenüber der Krone zu demonstrieren, schlagen die Abgeordneten dem Ritter mit dem schwarzen Stab aber erst einmal die Tür vor der Nase zu, an die er dann dreimal klopfen muss. Dann werden auch die gewählten Repräsentanten der gewöhnlichen Sterblichen, der Commons, ins Oberhaus gebeten.
Großbritannien pflegt Traditionen wie diese seit Jahrhunderten – so auch die auf Ziegenhaut gedruckten Gesetze, den Geheimrat „Privy Council“ oder die wöchentlichen Gespräche der Queen mit dem Premier.
Diese Kontinuität der britischen Institutionen – die aus dem Blickwinkel eines so wechselvollen Landes wie Deutschland schwer nachzuvollziehen ist – bringt jene Selbstgewissheit hervor, die von uns oft für Arroganz gehalten wird, und die viele Briten (nicht ohne Trotz) so sehr an ihrer Souveränität festhalten lässt.
Zu dieser Kultur gehört der Streit: die Debatte, und der Widerwille, Kompromisse einzugehen. Dass der Konflikt diesem Selbstverständnis geradezu eingeschrieben ist, hat „die Eiserne Lady“ Margaret Thatcher als einen der Gründe bezeichnet, überhaupt in die Politik zu gehen.
Dem Prinzip der Kontroverse entspricht das britische Mehrheitswahlrecht, das die beiden großen Parteien bevorzugt. Es spiegelt zwar keineswegs immer die Mehrheitsmeinung des Volkes wieder, aber es sorgt in der Regel für klare Verhältnisse. Die sogenannte „loyale Opposition“ mag der Regierung trotzen, ist aber dem Staat gegenüber loyal. Das erlaubt es Regierung und Opposition, sich in jeder Detailfrage erbittert zu bekämpfen – und lässt wenig Raum für Konsens. Es führt auch immer wieder zu jenen Dramen im britischen Parlament mit ihren lauten Beifalls- und Missfallensausbrüchen, die wir gelegentlich in den Nachrichten zu sehen bekommen.
Während die meisten europäischen Parlamente in Hufeisenform angeordnet sind, mit gradueller Abstufung für kleinere Parteien, fördert die enge Architektur des Unterhauses die konfrontative Debatte und das Ringen um den rhetorischen Sieg: Regierung und Opposition sitzen einander auf Bänken genau gegenüber, die zwei Schwertlängen voneinander entfernt sind.