16. Neue Namen, neue Formen (4)
Mitte der 70er Jahre ereigneten sich drei bemerkenswerte Dinge, die für die Geschichte des Musicals auf unterschiedliche Weise bedeutsam sind. Im Oktober 1974 startete „Mack And Mabel“, ein Flop, der bei Liebhabern mit Überblick als beste Arbeit jenes Jerry Herman gilt, der seine größten Erfolge mit „Hello Dolly!“ und „La Cage Aux Folles“ haben sollte. (Dazu später mehr.) Im Jahr darauf hatte das Backstage-Musical „A Chorus Line“ des Filmmusikers Marvin Hamlisch Premiere, das den Rekord als am längsten laufendes Broadway Musical brechen sollte. Diese Bestmarke hat bis heute ihren Wert, denn sie stammt aus der Zeit vor dem Siegeszug der lizensierten Musicals, für die in aller Welt Werbung gemacht und Theater errichtet werden.
Weiterhin machte in jenen Tagen eine britische Billig-Produktion Karriere, die wie kein anderes Produkt der Popkultur den Begriff „Kult“* verkörpert: Die „Rocky Horror (Picture) Show“. Ihre multimediale Erfolgsgeschichte ist mindestens so inhaltsträchtig wie das Werk selbst – und das Werk hat allerhand zu erzählen. Bezeichnenderweise hat der Broadway an dieser Musical-Erfolgsgeschichte keinerlei Anteil und war hier nur der spätere Nutznießer.
Der in Neuseeland aufgewachsene Schauspieler Richard O’Brien hatte sich die Geschichte um das junge Spießerpärchen, das nach einer nächtlichen Reifenpanne in eine außerirdische Sexparty verwickelt wird, ausgedacht, nachdem er aus dem Ensemble von „Jesus Christ Superstar“ in London rausgeschmissen worden war. Er legte als Parodist halbseidener Kulturphänomene – in diesem Falle die Horror- und Science-Fiction-B-Movies des Kalten Krieges und die untergegangenen Burlesque-Shows – ein ähnliches Vorgehen an den Tag wie 20 Jahre später Quentin Tarantino im Film.
Zusammen mit ein paar Kollegen brachte er das Ergebnis, seine „Rocky Horror Show“ auf die Bühne, und die zunächst 63 Sitzplätze waren Abend für Abend ausverkauft. Bald zog die Truppe aus dem kleinen Royal Court Theater in Chelsea in ein größeres Londoner Theater um und danach weiter in die USA. Der Erfolg im legendären Roxy Theater in Los Angeles verschaffte der Truppe einen Filmvertrag. Richard O’Brien spielte wie gehabt den buckligen Riff-Raff und sang das Eröffnungslied (obwohl der berühmte rote Mund nicht seiner ist). Einige US-Weltstars wie Susan Sarandon und Meat Loaf pimpten das Londoner Ensemble, das am 14. August 1975 die Premiere in seiner Heimatstadt feierte. Der Kinostart in den USA folgte im September – mit sieben Kopien. Auch aufgrund dieser ratlosen Halbherzigkeit wurden die Erwartungen der Beteiligten herb enttäuscht, wie sich Patricia Smith, die von Anfang an dabei war, erinnert: „Bei 20th Century Fox konnten sie mit dem Film nichts anfangen. Er war ein totaler Flop, bis ein brillanter Kopf auf die Idee kam, ihn an allen großen amerikanischen Universitäten auf dem Campus zu zeigen, und zwar um Mitternacht. Das war perfekt, da kam dann schon ein sehr seltsames Völkchen zusammen.“
New York erwies sich einmal mehr als „Laboratorium der Moderne“: im Village wurde die „Rocky Horror Picture Show“ als sogenanntes Midnight-Movie zum Renner. Die Leute kamen immer wieder und brachten ihre Freunde mit – bis alle den Film auswendig kannten und ihnen das Zusehen allein nicht mehr genügte. Die Londoner Schauspieler staunten nicht schlecht, als sie von dort eine Cassette mit den Zwischenrufen aus dem Saal und dem Hinweis erreichte: „Die Leute sind so aufgemacht wie ihr!“
„Es war unglaublich“, erzählt Smith weiter. „Der Film animierte das Publikum, mitzuspielen und an bestimmten Stellen zu reagieren.“
Die „Rocky Horror Picture Show“ begann, sich zu verselbständigen – bald gehorchte das Kinopublikum überall auf der Welt den gleichen Spielregeln: es warf mit Reis bei der Hochzeitsszene, spritzte beim anschließenden Gewitter mit Wasserpistolen und hatte ein Parallel-Drehbuch aus Kommentaren, Regieanweisungen und ironischen Zwischenrufen gefertigt. Als der Film zwei Jahre später auch in den deutschen Kinos anlief – im Original mit Untertiteln – wurden diese auch bei uns im O-Ton übernommen.
Heute ist die „Rocky Horror Show“ das auf unseren Bühnen meistinszenierte Musical, und Teile des Publikums fröhnen auch in der Live-Version dem Reiswerfen, Zeitungaufklappen und Hineinrufen. Das ist zwar eigentlich witzlos, da es nicht bei einem Film geschieht, der unbeirrt seinen Lauf nimmt, aber ein Phänomen wie einst in New York entsteht heute nicht mehr so ohne Weiteres, da der Mainstream breiter ist als je zuvor und die Subkultur es kaum mehr dort hineinschafft.
Auch insofern ist die „Rocky Horror Picture Show“ gleichermaßen ein Medienereignis aus dem Geschichts- und aus dem Bilderbuch.
____________________________
* Siehe dazu auch https://blog.montyarnold.com/2014/09/21/was-ist-kult/