Absturz ins Paradies

betr.: “Annas Paradies“, Band 3: „Hexenjagd“ – Splitter Verlag
Texte und Zeichnungen: Daniel Schreiber

“Annas Paradies“ ist nun komplett. Wenn man sich die virtuosen Zeichnungen von Daniel Schreiber betrachtet, verwundert es nicht, dass seit dem ersten der drei Bände fünfeinhalb Jahre vergangen sind. Er schreckt vor keiner Perspektive, keinem Detail, keiner furiosen Action-Choreographie zurück. Wir blicken in geschundene Gesichter und in menschliche wie auch ganz buchstäbliche Abgründe. Wir spüren die modrige Feuchtigkeit, den Dreck unter unserer frisch gewechselten Unterwäsche.
Doch Daniel Schreiber hat die gleichen Probleme wie die meisten Comic- bzw. Graphic-Novel-Erzähler unserer Tage.

Annas Paradies_3_44Anna glaubt nicht an die These, die Erde sei nur die Hölle eines anderen Planeten – aus dem besprochenen Band.

Das titelgebende Paradies ist die zynische Bezeichnung für ein ganz besonders heruntergekommenes Viertel einer nicht genannten deutschen Stadt. Es wird auch dadurch zu einem Mikrokosmos, dass es die Bombenangriffe des soeben zu Ende gegangenen Zweiten Weltkriegs heil überstanden hat, während das übrige Stadtgebiet dem Erdboden gleichgemacht wurde. Es ist scheinbar der einzig bewohnbare Flecken Erde in einem gewissen Umkreis.
Der zottelige Schwarzmarkthändler Viktor, ein massiger Unhold mit goldenem Herzen, nimmt ein Mädchen namens Anna bei sich auf, das buchstäblich vom Himmel gefallen ist. Damit erschüttert er die Diskretion seiner Geschäfte und handelt sich auch sonst allerlei Schwierigkeiten ein. Dass Anna ein geflügeltes Zauberwesen mit enormen Körperkräften ist, eine „Überläuferin der dunklen Seite, ein schwarzer Engel“ und außerordentlich miese Laune hat, macht das Zusammenleben mit ihr nicht einfacher. Und auch als sie sich die Schwingen in einer schmerzlichen Szene am Ende des ersten Bandes amputiert, bleiben ihre größten Kümmernisse bestehen: ihre Nicht-Menschlichkeit und die Nachstellungen ihrer mythischen Artgenossen.
Warum der speckige Viktor ihr trotz allem die Stange hält, erfahren wir erst jetzt im dritten Band: es hängt mit einem Versprechen zusammen, das er einem sterbenden Kameraden im Schützengraben gegeben hat. (Wenn man sich der völligen Unbedarftheit erinnert, mit der er Anna in den ersten Kapiteln begegnet ist, erscheint dies allerdings als eine nachträgliche Entscheidung.)

“Annas Paradies“ hat trotz seiner detailliert gezeigten Welten – neben dem deutschen „Paradies“ von 1946 verschlägt es uns in eine Reihe von Traumsequenzen und Rückblenden – keinen richtigen Schauplatz, nur eine Melange schmuddeliger Unorte, die wir vor allem aus dem Kino kennen, aus ganz unterschiedlichen Endzeitfilmen wie „Blade Runner“, „Delicatessen“ oder „Les Miserables“.
“Annas Paradies“ hat auch keine eigene Sprache. Die Wesen aus Annas Welt sind um gediegenes Pathos bemüht – der Weltkrieg war „Luzifers großes Werk, das die Welt endgültig in die endlose Nacht stürzte“ -, aber das klingt eher nach preiswerter Fantasy aus unseren Tagen. Und dann gibt es noch die irdene Alltagssprache. Wie wenig sich Daniel Schreiber als Autor für das selbstgewählte Kolorit der Nachkriegszeit interessiert, hört man an Dialogstellen wie „Schluss mit lustig“. Der historische Hintergrund ist eine reine Behauptung und schielt möglicherweise nach den historischen Relevanzbemühungen deutscher TV-Movies.
Und schließlich hat “Annas Paradies“ keine Geschichte. Stattdessen erleben wir eine Abfolge gruseliger Situationen aus dem Baukasten der jüngeren Popkultur – Fluch, Rache, Mutation, Besessenheit, zusammengehalten von ganz viel Fantasy. Der „Genre-Mix“ ist  aus Klischees zusammengerührt, die sämtlich aus dem Mainstream stammen (vor allem aus dem Blockbuster-Kino). Die „One Man Army“ Daniel Schreiber scheint nichts zu lieben, zu studieren, gelesen zu haben, was nicht gerade im Trend liegt.
Für so wenig Inspiration ist die aufwändige Meisterschaft seiner Bilder schlicht einige Nummern zu groß.

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