Der heutige Filmfreund braucht die unfreiwillige Konfrontation mit älteren Produkten nicht mehr zu fürchten. Das Fernsehen hat sich von der Ausstrahlung historischen Materials fast völlig verabschiedet. Gute Geschichten unserer Tage dauern gemeinhin länger als 90 Minuten, daher werden sie eher als Serien gereicht. Wer also Lust auf eine frische kompakte Filmerzählung hat, der kann auf das Remake eines alten Stoffes hoffen. Die Neu- bzw. Literaturverfilmung ist im zeitgenössischen Hollywood-Mainstream zur am besten erreichbaren Fluchtmöglichkeit vor Sequels und Prequels aus der Welt der Action und Fantasy geworden.
Die für mich vielleicht berührendste Liebesgeschichte des Kinos darf eine solche Nacherzählung kaum erwarten, denn sie ist ein Kammerspiel mit ausdrücklich alltäglichen Charakteren, ein Kleinbürgerschicksal. „Brief Encounter“ spielt im bombenbedrohten England des Zweiten Weltkriegs, entstand auch da und dort und vermittelt die Tapferkeit, die man gegen die Mühen der Lebensmitte und gegen widrige Zeitläufte aufzubringen hat, auch aus diesem Grund so eindringlich. Sie ist den Figuren zur Gewohnheit geworden.
Den linkischen Helden Trevor Howard kennen wir als harten Knochen – er spielt mit Vorliebe Soldaten, Kommissare, Kapitäne, knorrige Pflichterfüller mit großer Verantwortung. Er war ein gefeierter Partylöwe, der erst in zwei kleinen Filmen aufgetreten war, als Autor Noël Coward, der auch als Produzent fungierte, ihn für die Hauptrolle auswählte und in eine Weltkarriere starten ließ.
Das Drehbuch beruht auf Cowards halbstündigen Einakter „Still Life“.
Die Geschichte wird aus der Perspektive von Laura Jesson (Celia Johnson) erzählt, einer Frau, die so lange glücklich verheiratet ist, bis sie zufällig auf einem Kleinstadtbahnhof Dr. Alec Harvey (Trevor Howard) kennenlernt. Auch er ist gebunden. Sie finden heraus, dass sie beide jeweils donnerstags in die Stadt fahren und machen ein Ritual aus diesen zunehmend romantischen Begegnungen. Die finden in einem schmucklosen Bahnhofsrestaurant statt und müssen schließlich ein Ende haben: Dr. Harvey nimmt eine Stelle in Südafrika an. Er lässt sich zu einem letzten Treffen überreden …
„Begegnung“ nimmt uns mit in eine Zeit, deren Sitten wir kaum entrückter sein könnten. Die verzagte Anständigkeit der verhinderten Liebenden, die selbst wegen ihrer unerfüllten Träume die schlimmsten Gewissenqualen leiden, scheinen aus noch weiter zurückliegenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu stammen, aus einem Roman von de Maupassant oder Flaubert. Doch der rechte Hochmut mag uns dabei nicht überkommen.
Der in seinem Humor weitaus deftigere Billy Wilder fand für die Situation zweier Liebender (bzw. sexuell Interessierter, die nicht zueinanderfinden) den Ausdruck „U. F. F.“ („unfinished fuck“). Bei Coward wird diese Situation, die einigen von uns so fremd vielleicht auch wieder nicht ist, von ihrer tragischen Seite her erzählt. Als Laura und Alec sich zum Abschied in der Gaststätte treffen, um die letzten rasch verrinnenden Minuten miteinander zu verbringen, taucht eine geschwätzige Bekannte Lauras auf, die normalerweise einfach nur lästig wäre, in dieser Situation aber eine Heimsuchung ist. „Das Schicksal war bis zur letzten Minute gegen uns. Es war grausam!“ sagt uns die Stimme der Ich-Erzählerin. „Sie redete und redete … Ich war niedergeschlagen und wie betäubt.“
Das ist das Ende dieser Verbindung. Doch der Film hat noch ein kleines Nachspiel.
Dass „Begegnung“ uns nicht einfach niederdrückt, liegt daran, dass Noël Coward Heiterkeit ebensosehr zu schätzen und zu erzeugen weiß wie Billy Wilder.