Bin ich nicht süß?

betr.: „Esthers Tagebücher“ von Riad Sattouf

Kindern haftet in unserer Kultur gern auch etwas Unheimliches an, vor allem in der amerikanischen Filmkunst, wo der Horror mitunter als regelrechte Parodie der Kinderstunde daherkommt. Der (zum Glück) kurze Sommer der Horrorclowns im vorigen Jahr ließ diesen Aspekt wieder aufscheinen.
Besonders kleine Mädchen, die ja bekanntlich um einiges schlauer sind als ihre tumben Brüderchen, sind geübt im Verbreiten von Angst und Schrecken: unvergessen und beispielhaft die Zwillingsmädchen in „Shining“, die dem gleichaltrigen Helden mit lockendem Gesäusel in einem Hotelflur am Ende der Welt auflauern.

„Esthers Tagebücher“ von Riad Sattouf ist davon sicher unbeeinflusst, steht aber doch in dieser Tradition.
Die Seiten dieses Albums erzählen in sich abgeschlossene Geschichten, die zuvor im wöchentlichen Nachrichtenmagazin „L’Obs“ erschienen sind. Am Fuße einer jeden wird uns etwas übereifrig beteuert, dass sie eine „wahre Geschichte aus dem Leben von Ester A.“ zur Grundlage haben, eines Mädchens aus Sattoufs Bekanntenkreis.
Freilich geht es bei den mehrheitlich gruseligen Gedankengängen der Heldin nicht um die physische Brutalität eines King oder Kubrick. Es geht um Oberflächlichkeit, allzufrühe Abstumpfung, Perspektivlosigkeit, Vorurteile – Paris als ein „Dorf der Verdammten“. Das klingt dann so: „Mein Bruder ist 14 und ziemlich doof, aber das ist normal bei Jungen“ oder „Meine Lehrerin ist nett, aber sehr hässlich.“ Auch Homosexualität wird thematisiert, kommerzielle Trends, Großbusigkeit und was Kinder uns sonst noch für Themen aussuchen. Dass Esther sich ein neues Smartphone wünscht, aber keins bekommt, während ihre Eltern längst zu „Smombies“ herabgesunken sind, ist gut beobachtet, wird aber so wohlfeil serviert wie alles Übrige. Wenn sich auf mehreren Seiten darüber entsetzt wird, dass der Kindermund das Wort „Juuhpohrn“ aufgeschnappt hat, hat das viel von der verklemmten (elterlichen) Frivolität meiner Kinderzeit, obwohl wir doch heute so viel flotter und aufgeklärter sind.

Dies alles lässt Sattouf unbewertet, was fraglos eine honorige Entscheidung ist. Dennoch kommt mir bei meiner Entlarvungsleistung kaum Freude auf. So glücklich ich bin, dass mich der Autor nicht bevormundet, so sehr vermisse ich eine höhere Ordnung der Dinge im Hintergrund, von der ich hoffen kann, dass sie irgendwann vielleicht auf die Heldin herabsinken wird. Dem steht bereits der angestrengt juvenile Erzählton im Wege, der emsige Mitschreiberei verrät, aber wenig Neigung zur erzählerischen Nacherfindung erkennen lässt. Wer möchte, kann Esther auch einfach niedlich finden; normal ist sie ja ohne Frage.

Beim Lesen hat mich allerdings auch noch ein sportlicher Gesichtspunkt interessiert.
Wenn der Untertitel eines Buches lautet „Mein Leben als Zehnjährige“ kann ich – der ich empirisch betrachtet das genaue Gegenteil eines zehnjährigen Mädchens bin – nicht umhin mich zu fragen, wie gut es dem Autor wohl gelingen wird, mich auf diese Seite hinüberzulocken. Wann immer mir ein solcher Ausflug ermöglicht wird, auch einige Comics haben das schon geschafft, bin ich dankbar und beeindruckt. „Esthers Tagebücher“ schafft es keine Sekunde.
Vielleicht sollte ich dafür dankbar sein, dass hier vieles  aufgerufenen wird, dass man sonst tunlichst aus allem heraushält, was Kinder betrifft.
Vielleicht ist das ja auch einfach Literatur für Eltern. Wieder so ein entferntes Gehöft, auf das man mich mit etwas Geschick sicher hinüberlocken könnte.

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