(Alles über den) Song des Tages: „Sportpalast-Walzer“

betr.: 34. Jahrestag vom Abriss des Berliner Sportpalastes am 13.11.

Siegfried Translateur schrieb jenen Ohrwurm, der unter dem Titel „Sportpalast-Walzer“ vorübergehend unsterblich werden sollte, 1892 in Wien und gab ihm den Titel „Wiener Praterleben“. 1923 wurde das Stück vom Orchester Otto Kermbach erstmals beim Berliner Sechstagerennen im Sportpalast gespielt. Das Publikum war begeistert, und die Kapelle musste den Walzer wieder und wieder spielen. Eines Tages begann auf dem Heuboden jemand auf zwei Fingern im Takt dazu zu pfeifen, und bald pfiff der ganze Saal. Die drei eingeworfenen Pfiffe in jeder Zeile des Refrains wurden zum festen Bestandteil des nunmehr „Sportpalast-Walzer“ heißenden Stückes.
Der Mann, der da als erster gepfiffen hatte, war ein Zeitungsverkäufer aus Kreuzberg. Reinhold Habisch war als “Krücke“ ein Berliner Original. Mit sechzehn war er unter eine Straßenbahn geraten. So zerschlug sich zwar sein Traum, Radrennfahrer zu werden, aber bei jedem Sechstagerennen stand er auf seinem Stammplatz in der ersten Reihe des Heubodens, schwang die Krücken, erzählte Witze – und pfiff.

Das Hauptmotiv des „Sportpalast-Walzers“ in einer Aufnahme aus den 70er Jahren.

Bei seiner Eröffnung 1910 lag der Sportpalast noch am Rande der Stadt – in der Potsdamer Straße in Schöneberg. Richard Strauss dirigierte dazu Beethovens 9. Sinfonie. Das drei Millionen Goldmark teure Gebäude besaß 8000 Sitzplätze aus Holz, prunkvolle Räume in Pompejanisch-Rot und blauem Kunstmarmor, ein Restaurant für 6000 Personen mit eigener Silberputzkammer und die größte Kunsteisbahn der Welt. Die Eisrevuen waren seinerzeit der letzte Schrei, rechneten sich jedoch nicht. Nach drei Wochen kam der erste Bankrott, und es begann eine Zeit, in der sich immer neue Mäzene und Investoren mit ihren Ideen hier austoben sollten: mit Schönheitskonkurrenzen, Kappensitzungen, Versammlungen, Kinoabenden und -matineen, Operetten und natürlich mit Sportereignissen aller Art. Die moderne Mehrzweckhalle war geboren!

1928 begann Direktor Jakob Schapiro, auch politische Nutzung zuzulassen. Joseph Goebbels, damals Organisator rüder Straßenschlachten, schätzte dieses Forum augenblicklich. Gleich nach der Machtergreifung wurden die demokratischen Beiträge aus dem Programm gefegt und der „Sportpalast-Walzer“ verboten. Schwerer noch wog, dass sein Komponist Siegfried Translateur 1944 im Ghetto Theresienstadt umgebracht wurde. „Krücke“ soll sein Werk auch ohne Band-Begleitung weitergepfiffen haben.

Was geschah abgesehen von Goebbels‘ berühmter Hetzrede von 1943 noch an diesem Ort?
So ziemlich alles, was in den 63 Jahren seiner Existenz von sich reden machte: Ende der 20er Jahre bejubelten die Berliner eine dreizehnjährige Eisläuferin aus Norwegen, den späteren Hollywoodstar Sonja Henie. Max Schmeling errang die deutsche Schwergewichtsmeisterschaft, bevor er 1930 in Amerika Weltmeister wurde. Herbert von Karajan traf hier sein erstes Massenpublikum, der Tenor Benjamino Gigli wiederum gab hier das letzte Europakonzert vor seinem Tode.
Gegen Ende des Krieges waren bei einem englischen Luftangriff zwei Brandbomben auf den Sportpalast gefallen. Er brannte die halbe Nacht, und zuletzt war wenig mehr von ihm übrig als die pseudogriechische säulengeschmückte Fassade und das Stahlgerippe der Dachkonstruktion. Er wurde nach und nach etwas schlichter wiederhergestellt, die Fassade erhielt ihren neuen Look in Himbeerrosa und mausgrau. 1951 eröffnete das Haus wieder mit einer Eisrevue – denn zum Glück waren auch die mächtigen Eismaschinen intakt geblieben. Das Fernsehen übertrug bunte Abende, Lionel Hampton spielte, der Donkosakenchor sang.

Mit dem Bau der Mauer wurde dem Sportpalast jedoch ein Großteil seines Publikums abgeklemmt, und der Betrieb deckte die Ausgaben nicht mehr. Für 8 Millionen Mark wurde das Grundstück verkauft. 21.000 Einrichtungsgegenstände wurden zur Schmälerung alter Schulden verhökert: ein Sportclub kaufte die Eismaschinen, ein vorwiegend studentisches Publikum begeisterte sich für die harten Nothocker (zu 50 Pfennig das Stück), und der Schauspieler Hans Söhnker erstand einen zerbeulten Wurschtkessel für 15 Mark.

Söhnker 1972Hans Söhnker um die Zeit seines Kesselkaufs mit einem anderen nostalgischen Schnäppchen.

Dann wurde „der Schuppen“ abgerissen, um Platz für ein „modernes Wohn- und Geschäftszentrum“ zu schaffen.
Was hatte dort eigentlich zuletzt stattgefunden, quasi als Abgesang auf all den Glanz und all das Elend aus Tingeltangel, Hochkultur, Leibeserziehung und Weltgeschichte? – Hören Sie selbst!

Hugo Egon Balder begrüßt einen Gast in der Spielshow „RTL – 12 Uhr mittags“ auf Radio Luxemburg am 13. Januar 1980.

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